Spione kuesst man nicht
verbracht. Aber dich hab ich noch nie gesehen.«
Vielleicht, weil ich das Mädchen bin, das niemand sieht, wollteich sagen. Aber er hatte mich ja gesehen, fiel mir ein, und dieser Gedanke raubte mir so sehr den Atem, als hätte mich jemand in den Bauch getreten (ein Vergleich, zu dem ich aus Erfahrung durchaus berechtigt bin).
»Aber … hey …«, sagte er, als ob ihm gerade etwas eingefallen wäre. »Ich seh dich bestimmt in der Schule.«
Hä?, dachte ich kurz und fragte mich, wie ein Typ wohl an der Gallagher Akademie aufgenommen werden konnte (vor allem, da Tina schwört, dass es irgendwo in Maine eine streng geheime Jungsschule gibt und sie jedes Jahr ein Bittgesuch bei meiner Mutter einreicht, damit eine Klassenfahrt dorthin genehmigt wird).
Dann fiel mir meine Legende ein – ein ganz normaler Teenager, der aber auf den Fluren der Highschool von Roseville nie auftauchen würde – und ich schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht auf eine öffentliche Schule.«
Das schien ihn zu überraschen, aber dann guckte er mir auf die Brust. (Nicht SO – ich hatte doch mein Sweatshirt an! Außerdem gibt es da nicht allzu viel zu sehen, das könnt ihr mir glauben.) Ich schaute auch und sah, dass das silberne Kreuz auf meinem neuen schwarzen Sweatshirt glitzerte.
»Wirst du zu Hause unterrichtet oder was?«, fragte er und ich nickte. »Aus religiösen Gründen?«
»Ja«, sagte ich und fand, dass das gar nicht so schlecht klang. »So was in der Art.« Ich machte einen Schritt zurück, dem Wagen, meinen Mitschülerinnen und meinem Zuhause entgegen. »Ich muss los.«
»Hey!«, rief er mir hinterher. »Es ist dunkel. Ich begleite dich. Um dich zu beschützen, verstehst du?«
Ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn mit der Cola-Flaschehätte töten können. Wenn sein Angebot nicht so lieb gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich gelacht. »Ich bin okay«, rief ich zurück und lief den Bürgersteig entlang.
»Dann eben, um mich zu beschützen!«
Da musste ich wirklich lachen. »Geh wieder auf den Jahrmarkt!«
Noch zehn Schritte, dann hätte ich die Ecke umrundet. Ich wäre frei gewesen, aber der Junge brüllte: »Wie heißt du?«
»Cammie!« Ich weiß nicht, warum ich ihm meinen Namen verriet, aber es war passiert und ich konnte die Sache nicht rückgängig machen. Also wiederholte ich: »Cammie! Ich heiße Cammie!« Ich wollte wohl ausprobieren, ob die Wahrheit passt.
»Hey, Cammie –« Er zog sich mit langen, faulen Schritten von mir zurück, den Lichtern und dem Gedudel des Jahrmarkts entgegen, der noch in vollem Gange war. »Sag Suzie, der Katze, sie hat Glück!«
Hatte es jemals Worte gegeben, die so sexy waren? Ich glaube nicht.
»Ich bin übrigens Josh.«
Ich fing an zu rennen und rief: »Auf Wiedersehen, Josh!« Aber bevor ihn die Worte erreicht hatten, war ich schon verschwunden.
Der Übernacht-Express wartete am Ende der Gasse auf mich. Seine Scheinwerfer waren ausgeschaltet. Ich spürte Mr Smiths Cola-Flasche in der Hand und konnte mich nicht mehr erinnern, warum ich das Ding mit herumschleppte. Jetzt schäme ich mich fast dafür, aber zehn Sekunden mit einem Jungen hatten bewirkt, dass ich meinen Auftrag vergaß. Ich schautedie Flasche an und wusste dann doch, wer ich war und warum ich da war, und es wurde mir klar, dass ich alle Jungs, Mülltonnen und Katzen, die Suzie hießen, zu vergessen hatte. Ich wusste wieder, was Wirklichkeit und was Legende war.
Als ich die hintere Tür des Transporters öffnete, erwartete ich, meine Mitschülerinnen zu sehen, die mich darum beneideten, dass ich als Top-Spionin meinen Auftrag erfolgreich erledigt hatte, aber ich sah nur Pakete und nichts als Pakete – sogar der Fernseher war weg –, und statt der Schreie der Mädchen, die mir gratulierten, merkte ich, wie die Worte Sag Suzie, der Katze, sie hat Glück! in meinem Kopf zuerst widerhallten und dann verstummten, als mir klar wurde, dass irgendwas nicht stimmte.
Ich guckte schnell ins Fahrerhäuschen, wo eine grell orangefarbene Kappe auf dem Armaturenbrett lag, die der rechtmäßige Fahrer dort liegengelassen hatte. Wir waren gekommen und gegangen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Jetzt gab es nur noch die Flasche und den langen Weg nach Hause.
In nassen Jeans zwei Meilen laufen zu müssen, war eine Strafe des Schicksals, weil ich mir einen Hotdog und ein Eis gegönnt hatte (sagte ich mir). Aber als ich den Stadtrand erreichte, war ich mir da nicht mehr so sicher. Beim Laufen wurde mein Kopf frei. Ich
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