Spione kuesst man nicht
von dir«, sagte er. »Ich hab dir alles von meiner Mutter, der Superköchin, meiner zappligen kleinen Schwester und meinem Vater erzählt.«
»Was willst du denn wissen?«, fragte ich und flippte schier aus, was ihm auffallen musste, weil ich so lange schwieg.
»Alles. Deine Lieblingsfarbe. Deine Lieblingsband.« Er zeigte mit dem Finger auf mich, als er vom Bordstein sprang und sich auf der Straße drehte. »Was isst du am liebsten, wenn du krank bist?«
Was für eine tolle Frage! Mein ganzes Leben lang habe ichFragen beantwortet, manchmal echt schwierige, aber die Frage war besonders aufschlussreich.
»Waffeln«, sagte ich und staunte plötzlich, weil es stimmte.
»Ich auch!«, schrie Josh. »Sie schmecken viel besser als Pfannkuchen, was meine Mutter komisch findet. Der Teig ist der gleiche, sagt sie, aber ich erklär ihr dann immer –«
»Es hat was mit der Festigkeit zu tun«, sagten wir wie aus einem Mund.
OH, MEIN GOTT! Er begreift, warum es einen Unterschied zwischen Pfannkuchen und Waffeln gibt! Er hat es kapiert!
Josh lächelte. Ich schmolz dahin.
»Wann hast du Geburtstag?« Die Frage kam angeschossen wie ein Pfeil.
»Ähm …« Der Bruchteil einer Sekunde, den ihr braucht, um euch an eure Tarnidentität zu erinnern, ist der Moment, in dem sehr böse Menschen sehr böse Sachen tun. »Neunzehnter November«, sprudelte es ohne ersichtlichen Grund aus mir heraus. Das Datum landete in meinem Kopf wie ein Stein.
»Dein Lieblingseis?«
»Pfefferminz-Schokolade«, sagte ich, weil mir einfiel, dass wir solche Becher in seinem Müll gefunden hatten.
Er strahlte. »Meins auch!« Wer hätte das gedacht? »Hast du Geschwister?«
»Schwestern«, erwiderte ich instinktiv. »Ich habe Schwestern.«
»Was macht dein Vater? Wenn er nicht gerade die Welt rettet.«
»Er ist Ingenieur. Er ist wunderbar.«
Ich holte nicht einmal Luft, bevor ich es sagte. Die Worte waren draußen, und ich wollte sie nicht wieder reinstopfen.Es war die einzige Lüge von allen an diesem Abend, die ich nicht vergessen würde. Mein Vater ist streng, aber er liebt mich. Er kümmert sich um mich und meine Mutter. Wenn ich nach Hause komme, ist er da.
Und er hat die Welt wirklich gerettet. Sogar ziemlich oft.
Ich sah Josh an, der mir glaubte. Und in dieser Sekunde wusste ich, dass alles stimmte. Ich wusste, ab jetzt würde die Legende leben.
»Ihr seid aber kein Familienbetrieb, oder?«, fragte Josh.
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich log.
»Gut«, sagte Josh. »Sei froh, dass du niemanden hast, der dir ständig im Nacken hockt und sagt, du sollst in die Fußstapfen deines alten Herrn treten.« Er kickte einen Stein. »Wie heißt das – in der Bibel, meine ich –, wenn wir machen können, was wir wollen?«
»Freier Wille«, sagte ich.
»Genau.« Josh nickte. »Sei froh, dass du einen freien Willen hast.«
»Wieso? Hast du denn keinen?«
Wir waren an einer Ecke des Platzes angekommen, auf die ich nie besonders geachtet hatte. Josh zeigte auf ein Schild über einer Reihe von dunklen Schaufenstern – ABRAMS UND SOHN APOTHEKE, SEIT 1938 IN FAMILIENBESITZ.
Auf einmal wurde mir klar, warum wir Feldforschung betreiben. Ich wusste natürlich, dass Joshs Vater der Apotheker am Ort war. Aber Computerdateien und Steuerunterlagen hatten nichts darüber ausgesagt, was Josh von der ganzen Sache hielt. Sie hatten mich nicht darauf vorbereitet, seine Augen zu sehen, als er sagte: »Ich laufe eigentlich gar nicht so gern. Aber … dann muss ich nach der Schule nicht gleich nach Hause.«
Es klang so, als hätte er das noch keinem erzählt, aber seine Freunde kannten mich nicht. Und ich würde es seinen Eltern auch nicht verraten. Ich war niemand.
»Ich bekomme auch ganz schön Druck von oben – ich soll nämlich auch in die Fußstapfen meines Vaters treten«, gab ich zu.
»Echt?«
Ich nickte, weil mir nichts weiter einfiel. Ich wusste ja nicht einmal, wohin diese Fußstapfen führten. Diese Sicherheit hatte ich nicht.
Die Uhr im Turm über der Bibliothek schlug zehn. Aber es hätte genauso gut Mitternacht sein können und ich Cinderella.
»Ich muss –« Ich zeigte auf die Bücherei (und weiter auf die hohen Mauern meines Zuhauses). »Ich kann nicht … ich muss … tut mir leid.«
»Warte!« Er packte meinen Arm (aber auf eine nette Art). »Du hast eine geheime Identität, hab ich recht?« Er grinste. »Komm schon, du kannst es mir verraten. Du bist die uneheliche Tochter von Wonder Woman, ja? Das ist okay. Es macht
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