Spionin in eignener Sache
Schikanen zur Ver-schlimmerung der Krankheit beigetragen haben und deshalb nicht unschuldig an ihrem Tod sind. Aber ich glaube nicht, daß man von Mord sprechen kann, falls es das ist, worauf Sie hinauswollen.«
»Ich verstehe.« Kate kam sich wie eine Idiotin vor. Da legte sie, wie Nancy Drew, Hunderte von Meilen zurück, um einen Mord aufzudecken, wo alles, was es an Beweisen gab, in New York zu finden war: daß nämlich, aufs Ganze gesehen, die Juraprofessoren der Schuyler ein unangenehmer Haufen waren, oder – warum es nicht deutlicher ausdrücken, dachte sie – ein Haufen mittelmäßiger Scheißkerle. Dieser Mann hier hat alle Mühe, sein Leben wieder zusammenzuflicken, und ich komme daher und stelle ihm blöde Fragen!
Rosie schien ihre Gedanken zu ahnen. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, daß Sie hergekommen sind. Es hat mir gutgetan, über Nellie zu reden. Ich weiß, ich muß einen neuen Mittelpunkt für mein Leben finden, aber im Moment habe ich genug damit zu tun, das Grauen in Schach zu halten. Und danke, daß Sie nicht gefragt haben, ob ich verheiratet bin, ob ich ganz allein hier lebe oder sonstwas.
Sind Sie verheiratet?«
»Ja«, sagte Kate.
»Sie tragen keinen Ring. Nellie sagte immer, sie würde auch keinen Ring tragen, wenn sie verheiratet wäre.«
»Ich trage weder einen Ring noch seinen Namen und bin finanziell unabhängig von ihm. Er ist übrigens auch Jurist, aber kein Neokonservativer; in diesem Semester leitet er ein Projekt an der Schuyler, während Blair und ich dort versuchen, Recht und Literatur zu vermischen.«
»Was für ein Projekt? Nellie sagte, an der Schuyler gäbe es keine.«
»Bisher nicht, jedenfalls keine, in der die Studenten mit der wirk-89
lichen Praxis zu tun haben. Reeds Projekt kümmert sich um Strafgefangene – solche, die ihr Urteil anfechten wollen oder zu Unrecht im Gefängnis sitzen oder dort mißhandelt werden.«
»Nellie machte sich Gedanken um eine Frau, die im Gefängnis saß, die Frau eines Juraprofessors. Ich glaube, Nellie war ihr nur einmal begegnet, aber sie sprach oft von ihr, sagte, ihr Fall müsse neu verhandelt werden, denn ihr damaliger Anwalt hätte nichts von irgendeinem Syndrom gewußt.«
»Dem Geschlagene-Frauen-Syndrom. Kürzlich, auf dem halb-jährlichen Empfang der Schuyler, erwähnte einer der Professoren den Fall, und er sah die Sache so: Sie hat seinen Freund und Kollegen ermordet, und deshalb gehört sie ins Gefängnis, am besten in die Todeszelle.«
»Das muß die Frau sein. Was ist das Geschlagene-Frauen-Syndrom? Oder sollte ich mir die Antwort lieber ersparen?«
»So wie ich es verstehe – was nicht heißen soll, ich könnte es richtig erklären – hat es damit zu tun, daß das Gesetz es als Notwehr ansieht, wenn die Täterin ihr Leben zum Zeitpunkt der Tat in Gefahr sah. Sie richten zum Beispiel eine Pistole auf mich, aber ich bin schneller und drücke vor Ihnen ab.«
»Ich sehe schon, Sie haben Ihre Jugend damit verbracht, sich Western anzugucken«, meinte er. Kate lächelte. Es war die erste annähernd entspannte Bemerkung, die er machte.
»Bei geschlagenen Frauen«, fuhr sie fort, »ist es jedoch so, daß sie meistens warten, bis der Unhold schläft oder fernsieht oder mit jemandem an der Bar schwatzt. Dann bringen sie ihn um. Um solche Frauen vor Gericht zu verteidigen, versucht die Rechtsprechung, eine Besonderheit geschlagener Frauen zu berücksichtigen: Wenn ihre Männer auf sie einschlagen, trauen sie sich nicht, sich zu wehren.
Deshalb warten sie ab, bis der Mann weniger bedrohlich ist.«
»Ich verstehe. Nellie hoffte jedenfalls, jemand würde sich darum kümmern, daß es zur Wiederaufnahme des Verfahrens kommt. Und wenn Sie jetzt Ihren Mann dazu anstiften können, daß sich sein Projekt der Frau annimmt, dann wären Sie nicht umsonst den weiten Weg nach Hampshire gekommen.«
Kate verstand, daß das Gespräch beendet war. Sie erhob sich, und er ebenfalls.
»Danke, daß Sie mit mir gesprochen haben«, sagte sie.
»Danke, daß Ihnen an Nellie liegt, obwohl Sie sich nicht kannten, daß Sie die weite Reise gemacht und so offen mit mir geredet haben, 90
ohne Fragen zu stellen oder Ratschläge zu geben. Schade, daß Sie Nellie nicht kannten. Sie hätten sich gemocht. «
Als sie zur Tür gingen, der Vordertür diesmal, sagte er: »Warten Sie einen Moment« und verschwand in ein Zimmer. Mit einem Buch in der Hand tauchte er wieder auf. »Meine Gedichte. Danke, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, sie zu
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