Spionin in eignener Sache
durchzusetzen.«
»Das ist mir klar. Aber ich wollte über Tess reden. Und ich konnte mir nicht vorstellen, daß er viel über sie weiß. Bei Ihnen war ich mir da natürlich sicher. Es wirkt bestimmt albern, daß einem ein Roman so wichtig werden kann. Mir kommt es beinahe so vor, als würde ich Tess kennen, zusehen, wie sie ihr eigenes Leben zerstört.«
»Lieber unterhalte ich mich mit Ihnen über Tess, als hundert lite-raturwissenschaftliche Essays über Hardy zu lesen.«
»Aber ich glaube, die Essays haben mir geholfen, das Buch zu verstehen und mich zu erinnern, was wichtig daran war.« Betty war vielleicht bereit, den ganzen Juristenstand anzugreifen, aber die Literaturwissenschaft verteidigte sie entschlossen.
»Das freut mich«, Kate ließ es dabei bewenden. »Und schlafen Sie nicht ein wie Tess«, fügte sie zum Schluß noch hinzu. »Wachen Sie auf.«
»Das bin ich schon.« Betty lächelte, traurig zwar, aber doch ein 131
Lächeln. »Ich bin aufgewacht.«
Kate wartete im Auto, während Reed mit Betty sprach. Als er schließlich aus dem Gebäude kam, schloß Kate ihr Buch und sah fragend zu ihm auf.
»Du hast sie wachgerüttelt. Ich glaube, die Chancen stehen gut, daß ihr Fall neu verhandelt wird.«
»Nicht ich habe sie wachgerüttelt«, sagte Kate, »sondern Thomas Hardy«
»Mir gegenüber hat sie nichts von Hardy erwähnt. Ist das nicht einer der bedeutenden Autoren, über die du geschrieben hast?«
»Weißt du, was Betty ist? Sie ist eine reine Frau – das ist sie.«
»Wenn du es sagst«, meinte Reed. »Nun, dann werde ich mein Bestes tun, es zu beweisen. Macht es dir was aus, zu fahren? Ich muß mir ein paar Notizen machen.«
Für den Rückweg nahmen sie die Brücke. Sie wollten schnell nach Hause.
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Er wußte es natürlich. Sie alle hatten schweigend jenes unausgesprochene Halbwissen geteilt, von dem sie gehofft hatten, es werde vorü-
bergehen wie ein Leiden, wenn es nur niemals eingestanden, niemals diagnostiziert würde.
John le Carré, ›Dame, König, As, Spion‹
Als das Semester fortschritt und das Ende allmählich in Sicht kam, machte der Dekan der Schuyler Law School drei wichtige Verlautbarungen. Er gab sie schriftlich ab, auf einem fotokopierten Memo, von dem er sich wohl erhoffte, es wirke so unspektakulär, daß weder die Professoren noch die Studenten es eines Blickes würdigen würden.
Voller Schadenfreude verkündete Blair, dieses Memo habe »die Kacke endgültig zum Dampfen gebracht« – so seine elegante und originelle Ausdrucksweise. Aber dem Dekan und seinen Hauptstützen unter der Professorenschaft sei noch nicht klar, daß sie die Kontrolle über die Schuyler verloren hatten. Die Studenten waren nicht mehr bereit, alles hinzunehmen, und was als unscheinbares Memo begonnen hatte, drohte sich zu einem hochbedauerlichen öffentlichen Skandal auszuwachsen.
Der Inhalt des Memos war im wesentlichen: (i) nach Ablauf dieses Semesters würden die Professoren Reed Amhearst und Kate Fansler nicht an die Schuyler zurückkehren (was kaum jemanden überraschte, da beide klar zu verstehen gegeben hatten, ihr Lehrauftrag gelte nur für ein Semester und sie hätten keinerlei Absicht, ihn zu verlängern); (z) weder das neue Projekt, das sich mit den rechtli-chen Problemen von Strafgefangenen befasse, noch der neue Kurs Recht und Literatur würden nach dem jetzigen Semester fortgesetzt; (3) – (der Punkt, der die bei weitem heftigsten Reaktionen auslöste)
– einen Stiftungsfond, der der Schuyler Law School großzügigerwei-se angeboten worden sei, habe man abgelehnt. Es handele sich dabei um einen Fond, aus dem jährlich ein Preis für den besten ›Law Review‹-Artikel zum Thema Recht und Geschlecht verliehen werden sollte.
Blair, als ordentlicher Professor, erhielt das Memo und verteilte großzügig Kopien davon, die Harriet für ihn gemacht hatte. Die wiederum ergriff keinerlei Maßnahmen, daß die Studenten es nicht 133
in die Hände bekamen. Das Resultat war ein Aufruhr, wie man ihn sich an der Schuyler nie hätte vorstellen können, geschweige denn je erlebt hatte. Die Studenten veranstalteten Treffen und machten Pla-kate, die so schnell wieder aufgehängt wurden, wie sie von den Wänden gerissen wurden, und je deutlicher ihr Widerstand unterdrückt werden sollte, desto kühner wurde ihre Rebellion.
Worüber der Dekan und seine Getreuen in der Professorenschaft allerdings kein Wort verlauten ließen, war die Möglichkeit einer Neuverhandlung von Betty
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