Spionin in eignener Sache
Ziel hatte und damit keine Aussicht auf ein befriedigendes Ende. Das war Tess’ Tragödie, und ich glaube, das war auch meine. Wie ich, paßte Tess in keine der üblichen Frauenka-tegorien; und deshalb hat Hardy wohl seinen Untertitel später nicht mehr gemocht. Sie war weder rein noch unrein, sie gehörte einfach in absolut keine der Schubladen, die für Frauen vorgesehen sind.
Außer, daß sie zum Opfer wurde. Ja, Tess war ein Opfer – wie ich.
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Aber sie scheint nur ein Opfer zu sein – das haben Sie uns gesagt – , denn sie nimmt ihr Leben in die Hand. Sie weigert sich, einfach passiv zu sein.«
Sie sah zu Kate auf, die erneut nickte und ihr ermutigend zulä-
chelte.
»Ich meine«, setzte Betty wieder an, »das ist doch atmosphärisch überall zu spüren. Niemand schert es, daß die aus reiner Mordlust getöteten Vögel sterben; dann die armen Tiere auf der Heuwiese, die beim Mähen gefangen und totgeschlagen werden. Die Ratten – waren es Ratten? – im Getreideschober. Und vor allem Tess – die wie ein Opfer in Stonehenge niedergelegt wird. Vielleicht haben Sie sich ja auch geirrt, und Tess wurde zum Opfer, weil sie nie überlegte, wie sie allem entrinnen könnte – kein einziges Mal überlegt sie das, nicht mal am Ende. Und mir kam der Gedanke« – Betty hielt inne und sah Kate an –, »also ich dachte mir, vielleicht gibt es für mich doch ein Entrinnen. Vielleicht brauche ich kein Opfer zu sein wie die Tiere auf der Heuwiese, wie die Vögel, wie Tess in Stonehenge.«
Gott segne dich, Thomas Hardy, dachte Kate voller Ehrfurcht.
Ich habe etwas, das Reed nicht hat: manchmal, zwar ganz selten nur, bekomme ich die Bestätigung, daß Literatur etwas bewirkt. Daß Gesetze wirksam sind, weiß Reed sowieso, und deshalb sind ihm solche plötzlichen Offenbarungen nicht vergönnt.
»Reed ist überzeugt, daß die Chancen für eine Wiederaufnahme Ihres Verfahrens gut stehen«, erklärte sie Betty. »Er wird alles nur Mögliche dafür tun, und das sollten Sie auch. Wenn uns die hundert Jahre, die zwischen Ihnen und Tess liegen, immer noch nicht den richtigen Weg gezeigt hätten, wäre das wirklich ein Jammer, oder nicht?« Kate setzte sich über alle Gefängnisregeln hinweg und schob ihr Taschentuch über den Tisch zu Betty hin, die ihren Tränen jetzt freien Lauf ließ.
»Sie haben recht.« Betty wischte die Tränen weg. »Ich habe mich dazu entschlossen. Es hat keinen Sinn, einfach aufzugeben; ich muß es versuchen. Am Schluß sagt Angel zur Polizei, laß sie weiterschlafen. Ich werde aber nicht weiterschlafen. Das heißt, wenn Sie meinen, das sei der richtige Schritt.«
»Natürlich ist es das.« Kate mühte sich um einen sachlichen Ton.
»Besprechen Sie alles mit Reed; er muß entscheiden, wie man am besten vorgeht. Ich jedenfalls bin voller Zuversicht, das bin ich wirklich.«
»Sie haben alle gelogen. Freds Freunde von der Universität. Be-130
haupteten, er hätte mich nie geschlagen, daß ich eine Verrückte sei, die dauernd Szenen machte, trank und die Kinder vernachlässigte.
Sie sagten alle unter Eid aus und logen, was das Zeug hielt. Glauben Sie, da könnte Reed einhaken?«
»Vielleicht können wir noch Zeugen finden, die damals von der Verteidigung nicht aufgerufen wurden«, meinte Kate. »Aber ich bin keine Anwältin, und Rechtsprechung hat nicht unbedingt mit Gerechtigkeit zu tun. Doch es klingt vielversprechend.«
»An seiner Fakultät gab es Leute, die wußten, wie Fred war. Die Sekretärinnen vor allem, die wußten Bescheid, aber sie hatten Angst, irgendwas zu sagen. Meinen Sie, jetzt würden sie sich vielleicht trauen? Glauben Sie, daß sie sich noch erinnern?«
»Ich kann nicht so tun, als wüßte ich es, Betty. Aber ich kann mir gut vorstellen, daß sie jetzt bereit dazu sind. Von Gerichten und Rechtsprechung verstehe ich nicht viel, aber wenn Reed zuversichtlich ist, daß Sie eine Chance haben, dann haben Sie eine Chance.
Und er weiß, wie er vorzugehen hat. Ich bin sehr froh, daß Sie mich sehen wollten. Und ich hoffe, wenn wir uns das nächste Mal treffen, wird es woanders sein, an einem Ort, den Sie sich ausgesucht haben, einem schönen Ort.« Kate hatte auf ihre Uhr geblickt. Die Besuchs-zeit war gleich vorüber. Jetzt mußte Reed mit Betty sprechen.
»Vergessen Sie nicht, Reed alles zu sagen, was Sie mir erzählt haben, über Ihren Fall, meine ich – und alles, was Ihnen sonst noch dazu einfällt. Denn auf ihn kommt es an, wenn es darum geht, die Berufung
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