Spionin in eignener Sache
anders; wir hangel-ten uns von einem Fall zum andern, mußten dauernd auf dem Quivi-127
ve sein und arbeiteten bis zur Erschöpfung. Wir, jedenfalls die Enga-gierten unter uns, konnten einfach nicht ewig so weitermachen. Und natürlich wurden wir obendrein schlecht bezahlt. Wir hatten es nicht geschafft.«
»Ich weiß«, nickte Kate. »Das alles kenne ich auch.«
»Aber bei dir war es nicht dasselbe, verstehst du das nicht?«
Reed legte den Arm um sie. »Für dich war es immer eine Herausforderung, Frau zu sein. Du bist Feministin geworden und hast versucht, das System zu verändern und es durchlässig zu machen. Du gehörst nicht zu den Frauen, die zufrieden sind, nur weil sie es geschafft haben, Karriere zu machen.«
»Ich bezweifle, ob es irgendeine Frau gibt, die damit wirklich zufrieden ist. Ich glaube es nicht.«
Sie schwiegen eine Minute, und dann, völlig überraschend, küßte Reed sie. Nicht sanft, sondern so, als seien sie auf einem Ozean-dampfer, verliebt, aber von Trennung bedroht. Ich wußte gar nicht mehr, wie Küsse sein können, dachte Kate, verwundert und amüsiert über ihre Reaktion. Ich hatte ganz vergessen, was Küsse einmal waren – ehe das Kino Erotik und handfesten Sex ein für allemal aneinanderkittete. Bei Gott, ich hatte es wirklich ganz vergessen.
Das Fährenhorn tutete; sie legten am Kai an.
»Was meinst du, sollen wir das verdammte Auto einfach ins Wasser plumpsen lassen?« fragte Reed. Aber sie gingen bereits lachend die Treppe hinunter.
Betty Osborne schien sich wirklich zu freuen, Kate zu sehen, aber sie saß so stumm da, daß Kate an den Spruch ihrer Mutter denken mußte »Hat’s dir die Sprache verschlagen?«, der zwangsläufig kam, wenn das störrische Kind Kate sich weigerte, Rede und Antwort zu stehen. Aber Betty war nicht störrisch, ihr fehlten nur die Worte, und Kate wußte nicht, wie sie ihr helfen konnte. Sie hatte bereits die allgemeinen Fragen gestellt, mit denen man ein Gespräch überlicherweise in Gang bringt, aber wie es schien, hatte sie weiteres Reden dadurch eher abgeblockt.
Da ihre Zeit begrenzt war, kam Kate zu dem Schluß, daß sie Betty wohl lieber auf die Sprünge half. »Wenn Sie nicht wissen, wie Sie beginnen sollen«, sagte sie, »fangen Sie doch einfach damit an, was Ihnen noch zu der Law School einfällt, an der Ihr Mann lehrte.
Kannten Sie seine Kollegen gut?«
»Einige ja. Aber ich mußte gerade an Tess denken. Halten Sie mich für verrückt, wenn ich in einem solchen Moment an eine hun-128
dert Jahre alte Romanfigur denke? Ich hätte mir das Buch ja schicken lassen können, wie Sie vorschlugen, aber ich wollte mich lieber nur daran erinnern.«
»Wenn ich Sie für verrückt hielte, weil Sie an Tess denken, dann müßte mir mein ganzes Leben verrückt vorkommen, und sinnlos obendrein, aber das tut es nicht. Was fiel Ihnen denn zu Tess ein?«
Betty hatte schon bei ihrem letzten Besuch über Hardy geredet, erinnerte sich Kate.
»Ich mußte einfach an vieles denken, was die Literaturkritik zu dem Roman sagt. An der Universität haben wir viele Interpretationen dazu gelesen, und oft hatte ich das Gefühl, sie drückten genau meine Gedanken aus. Ich erinnere mich, daß Sie uns sagten, wir sollten den Roman auf jeden Fall noch einmal neu auf uns wirken lassen, auch wenn wir meinten, wir hätten die Gedanken darin schon vorher gekannt.«
Kate sah sie lächelnd an, um ihr Interesse zu zeigen. Betty hatte angefangen zu reden, und vielleicht kam sie jetzt in Schwung. Aber erst nach einer langen Pause fuhr sie fort, fast, als wäre Kate gar nicht da.
»Erinnern Sie sich, daß Hardy dem Roman den Untertitel ›Eine reine Frau‹ gab, was er dann später bereute? Natürlich erinnern Sie sich. Ich glaube, das Problem ist, daß Tess und ich – daß wir wirklich reine Frauen waren. Wir waren nicht auf die Welt vorbereitet, in die wir gestoßen wurden. Weil sie ehrlich war, verlor Tess alles, und am Schluß hat auch sie den Dreckskerl umgebracht. Sie wurde ge-hängt. Heute hängt man niemanden mehr; deshalb kam ich auf den Gedanken, das so zu interpretieren, daß man mir eine zweite Chance gibt.«
Sie sah Kate fragend an. Kate nickte zustimmend.
»Ein Kritiker«, fuhr Betty fort, »an dessen Interpretation ich mich besonders gut erinnere, verglich Tess’ Reise mit Bunyans ›Pilgerreise‹. Wahrscheinlich war er nicht der einzige, der diesen Vergleich anstellte; aber jedenfalls war es dieser Aufsatz, der betonte, daß Tess’ Pilgerreise kein
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