Spittelmarkt
sich ab und verließ die Halle durch die Tür.
Judith blickte mich an, zuckte die Achseln. Wir folgten beide dem Polizeihauptmann nach draußen und kamen gerade recht, um zu sehen, wie ein SA-Mann die Standarten von den ausländischen Diplomatenwagen, die vor dem Hause standen, abschraubte und sie in seiner Tasche verschwinden ließ. Die beiden ausländischen Chauffeure stürzten sich auf den SA-Mann, und einen Augenblick später wälzten sie sich mit ihm auf der Straße. Schon bildete sich ein Kreis uniformierter Zuschauer um die drei Streithähne herum, doch auf einmal ging alles sehr schnell; viel schneller, als ich es erwartet hatte.
Es ertönte plötzlich das Martinshorn und lautes Hupen. Drei glänzende Wagen fuhren vor, aus jedem sprangen fünf Leute heraus. Ein uniformierter SA-Mann aus dem ersten Wagen kam auf uns zu.
»Obergruppenführer Müller«, rief ihm Judith laut entgegen, »wie gut, dass Sie da sind!«
Der Obergruppenführer in brauner Uniform blieb vor der Treppe stehen und fragte, was los sei.
»Dort stehen eine Menge Ihrer Parteigenossen«, erwiderte Judith, »aber ich kann mir wohl schlecht anmaßen, gegen SA-Leute auszusagen.«
Der Obergruppenführer Müller ging auf die Leute zu und packte den erstbesten SA-Burschen an der Gurgel. Der Mann lief rot an und brachte stotternd die allseits bekannte Geschichte von den Waffen, den Spionen und dem nichtarischen Haus vor.
Müller geriet in Wut. Er wusste natürlich, was die niedrigen Zulassungsnummern der Autos bedeuteten, und sobald die ausländischen Chauffeure hinzugekommen waren und sich in gebrochenem Deutsch über die gestohlenen Wimpel beschwert hatten, fasste Müller den SA-Mann noch einmal an der Gurgel. Zufällig war es derselbe, der die Flaggen gestohlen hatte. Widerstrebend zog dieser die Wimpel aus seiner Tasche hervor und gab sie zurück.
Der Polizeihauptmann und der Obergruppenführer sprachen nun laut miteinander, doch Judith zog mich am Ärmel von den Leuten fort. Wir gingen wieder ins Haus. »Es ist besser, wenn wir nicht hören, was sie reden, und sie nicht dabei stören. Ich glaube, wir können zu den Gästen zurückgehen. Die Gefahr ist vorbei.«
Erregte Stimmen wurden lauter, als wir in das Musikzimmer zurückgekehrt waren. Der Teil der Gäste, der etwas von den Vorgängen mitbekommen hatte, bat um Aufklärung. Einige Damen wurden blass, nachdem Judith ihnen einen ausführlichen Bericht über das gegeben hatte, was sich während der vergangenen halben Stunde außerhalb des Zimmers abgespielt hatte. Die Scherze, die von dem einen oder anderen zu hören waren, kamen nicht richtig an, sie wirkten hohl und gequält.
Ich sah aus dem Fenster. Die Braunhemden, die den Aufruhr verursacht hatten, waren verschwunden. Kurz darauf fuhr auch die Schutzstaffel ab, die uns zu Hilfe gekommen war.
Allmählich legte sich die Aufregung und die Feier ging in nachdenklicher Stimmung weiter. Allerdings stellte sich die vormals so gelöste Atmosphäre nicht wieder ein, weshalb knappe zwei Stunden später der letzte Gast verschwunden war. Auch ich machte mich zum Aufbruch bereit, jedoch bat mich Judith, noch ein wenig zu bleiben.
Es war ein vergleichsweise milder Abend, weswegen wir in den Garten gingen.
»Komm näher zu mir, Eugen«, forderte sie mich auf, »ich möchte nicht so laut reden.« Sie gab mir ihre Hand und wir schlenderten im einsetzenden Dämmerlicht um das Haus herum.
»Ich habe etwas geplant«, sagte Judith leise. »Es war nicht leicht, aber nun ist alles erledigt.«
»Was ist erledigt?«
»Alles! Papiere, persönliche Angelegenheiten, der Verkauf des Grundstücks.«
Ich blieb stehen und starrte meine vertraute Freundin an. »Du hast diesen Besitz verkauft?«
»Vorgestern! Ein Kaufangebot für das Grundstück hatte ich schon lange – ganz spontan habe ich das Angebot angenommen. Ich gehe fort!«
»Du gehst fort? Wohin – und warum? Du hast nie etwas gesagt!«
»Na, warum ich das tue, brauchst du nach dem vorherigen Vorfall wohl nicht mehr zu fragen. Es hat sich alles innerhalb der letzten zwei Wochen abgespielt. Ach, wenn ich auf die letzten Wochen und Tage zurückblicke, bin ich selbst überrascht, nein, schockiert darüber, welch drastische Schritte ich unternommen habe. Und doch habe ich nur reagiert! Die Machtübernahme der Nationalsozialisten hat meinen endgültigen Entschluss ausgelöst; allerdings habe ich mich bereits zuvor in Deutschland nicht mehr wohl gefühlt. Hätte ich eines weiteren Beweises bedurft,
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