Spittelmarkt
dass meine Entscheidung richtig war – heute hätte ich ihn erhalten. Zunächst fahre ich zu Freunden nach Frankreich. Mal sehen, wie es dann weitergeht. Langfristig denke ich an Amerika. Ich glaube, dass ich dort am ehesten wieder beruflich Fuß fassen kann.«
»Ist dein Entschluss endgültig?«, fragte ich. »Sicher, wir haben heute Nachmittag etwas äußerst Unerfreuliches erlebt; doch auf der anderen Seite hat der Ausgang dieser Geschichte bewiesen, dass selbst die SA letzten Endes an die Gesetze und die seit ehedem geltenden Spielregeln gebunden bleibt.«
Judith blieb stehen und schüttelte im Dunkeln den Kopf. »Eugen! Was redest du da? Diese Sache hätte auch ganz anders ausgehen können, das weißt du genau! Wir haben großes Glück gehabt. Was wäre wohl geschehen, wenn ich keine Verbindungen hätte, die ich nutzen könnte? Was wäre geschehen, wenn Obergruppenführer Müller, der Einzige in dieser Organisation, auf dessen Hilfe ich rechnen konnte, zufällig gerade nicht erreichbar gewesen wäre? Diese Regierung steht erst am Anfang! Sie ist noch keine drei Wochen an der Macht, und bereits jetzt sind Dinge möglich, an die man vor einigen Monaten nicht im Traum gedacht hätte. Mir ist, als ob sich in meiner unmittelbaren Nähe ein nicht zu kontrollierender Vulkan bemerkbar gemacht hat, der jeden Tag ausbrechen kann! Man weiß nicht mehr, was die nächste Stunde bringt! Ich habe von einer Reihe von Leuten gehört, dass sie still und heimlich das Land verlassen haben. Noch kann man es! Noch! Vielleicht ist es bald schon zu spät.«
»Du hast Wolfraths Worte nicht vergessen, nicht wahr?«
»Wie könnte ich sie vergessen? Es ist genau das eingetroffen, was er vorausgesehen hat! Nur ein paar Wochen ist es her, da wir mit ihm sprachen – nun zeigt sich, dass alles schlimmer ist, als man es je für möglich gehalten hatte.«
»Wann willst du denn fahren?«
»In knapp zehn Tagen. Am Abend des 27. besteige ich am Anhalter Bahnhof den Nachtzug über Frankfurt nach Paris.«
»Wird es denn ein Abschied für immer sein? Hm. Dumme Frage! Wenn du erst einmal in Amerika Fuß gefasst hast, führt kein Weg mehr nach Berlin zurück.«
»Wer weiß das schon?«, sagte sie leise und schluchzte laut auf. »Ach, Eugen! Was glaubst du denn, wie ich mich fühle? Ich lasse lange glückliche Jahre und eine Unzahl von Freunden zurück! Und einer davon bist du!«
Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. »Einer der Liebsten!« Und schluchzend drängte sie sich in meine Arme.
Mir war ganz elend zumute. Alles war auf einmal so verkehrt. Die bei all den Höhen und Tiefen doch beruhigende Gleichförmigkeit der letzten 12, 13 Jahre war dahin – und ich ahnte, dass sie niemals wiederkommen würde. Das, was gerade erst begonnen hatte, würde alles verändern. Lange hatte man es nicht ernst genommen, nicht wirklich daran geglaubt – und nun plötzlich war es da! Wann hatte es angefangen und womit? An einem besseren Tag würde ich darüber nachdenken müssen – falls einmal Zeit dafür war. Im Augenblick war ich nur verzweifelt.
Judith beruhigte sich und sah zu mir auf. »Wie steht es mit dir, Eugen? Hast du diese Frau gefunden?«
»Irene Varo? Nein! Aber ich habe eine Spur und weiß, wo ich nach ihr suchen muss. Ich bin nahe an ihr dran, manches andere habe ich bereits entdeckt. Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir Gelegenheit finden würden, darüber zu sprechen – allerdings scheint es, dass heute gar die allerletzte Gelegenheit dafür wäre.«
Judith löste sich aus meinen Armen und wir gingen langsam weiter. Während wir das Grundstück mehrere Male umrundeten, hörte sie bei fortschreitender Dunkelheit meiner Schilderung zu, was ich in den vergangenen Wochen und Monaten erlebt hatte und worüber ich bei unserem letzten Zusammentreffen anlässlich des Besuchs von Martin Wolfrath noch geschwiegen hatte. Auch den Grund für mein gestörtes Verhältnis zu meiner Schwester Doris ließ ich nicht unerwähnt.
»Mein Gott, das hört sich nicht gut an«, sagte sie, als ich fertig war, »du hast dich auf ein gefährliches Terrain begeben, Eugen. Was willst du denn jetzt tun? Du kannst dich dem Einfluss dieser Leute kaum mehr entziehen! Bist du noch Herr deiner Entscheidungen?«
»Ich denke – ja.«
»Für mich hört sich das nicht so an! Du stehst inzwischen nur noch vor der Wahl, entweder auf die Forderungen dieser Leute einzugehen – mit allen Konsequenzen, die das haben wird – oder du bist, wenn du dich dagegen
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