Spittelmarkt
ab.
Zwei, drei Minuten passierte nichts, dann hatte ich eine Idee. Mit einer schnell hingemurmelten Entschuldigung stahl ich mich aus dem Zimmer in die angrenzende kleine Halle, von der aus eine Treppe in das Obergeschoss führte. Ich stieg ein paar Stufen nach oben, hielt aber noch auf der Treppe inne, da vernahm ich von unten im Foyer Judiths Stimme. »Was wollen Sie? Was geht hier vor?«
Ich beugte mich über das Geländer und sah, wie Judith aus dem Foyer zurück in die Halle trat. Ein Mann, von dem ich nur den Anflug eines braunen Hemdes oder seiner braunen Jacke sah, folgte ihr. Nach einigen Momenten hartnäckigen Schweigens hörte ich, wie der Braune ihr antwortete: »Passanten haben uns geholt, weil der Verdacht besteht …« Es folgte unverständliches Gemurmel. Ich ging weiter und trat oben an das Fenster, das über dem Foyer lag.
Draußen vor der Pforte war es zu einem bedrohlichen Auflauf von Braunhemden gekommen. In beunruhigender Weise beobachteten sie den Eingang des Hauses und die am Straßenrand parkenden Wagen. Mitten auf der ruhigen Villenstraße standen zwei Mannschaftswagen mit geöffneten Türen. Hinter ihnen war eine Mercedes-Limousine quer auf der Straße geparkt. Es war klar, dass keiner der anwesenden Gäste die Feier unbemerkt würde verlassen können.
Ich ging wieder nach unten, wo Judith mit einem Polizeihauptmann sprach, der zu ihr und dem braunen Schatten getreten war. Um sie herum hatten sich andere Gestalten in Uniform postiert, und ich war direkt erleichtert, mehrere ganz gewöhnliche Polizisten darunter zu sehen.
»Uns ist gemeldet worden, dass hier eine Zusammenkunft von politischen Aufwieglern stattfindet«, hörte ich den Mann in der braunen SA-Uniform sagen. »Ich habe Befehl, das Haus zu durchsuchen.«
»Warum gehen Sie nicht zur nächsten Polizeidienststelle?«, sagte Judith ruhig. »Dort werden Sie erfahren, wer die Eigentümer der vor dem Haus geparkten Autos sind. Nochmals: Das hier ist eine Geburtstagsfeier und keine politische Versammlung!« Sie sah den Polizeihauptmann an. »Bitte sagen Sie diesen Leuten, dass sie gehen sollen.«
Der Polizeihauptmann blieb unbeeindruckt. »Ich habe Befehl, mich nicht in Untersuchungen der SS oder der SA einzumischen«, entgegnete er.
Gern hätte ich etwas getan, was dazu beitragen würde, die Situation zu entspannen – immerhin war ich Anwalt und wusste, was in Situationen wie dieser normalerweise zu unternehmen war. Doch das Land war nicht mehr dasselbe wie noch vor ein paar Wochen. Ich wusste, dass ich bestenfalls Gelächter ernten würde, wollte ich mich auf Recht und Ordnung und die Verbindlichkeit geschriebener Gesetze berufen. Einen Monat früher hätte ich den Polizeihauptmann nach seinem Durchsuchungsbefehl gefragt, inzwischen wäre dies eine sinnlose Frage, denn es war klar, dass er gar keinen hatte, weil es völlig gleichgültig geworden war, ob es einen solchen gab oder nicht. Die Polizei hatte nichts mehr zu melden; die Männer in Braun hatten die Macht ihrer Funktion übernommen, und die waren nicht an Gesetze gebunden.
Der braune Mann, der das Kommando führte, gab einem seiner Leute den Befehl, das Haus umstellen zu lassen. Die Situation wurde wirklich gefährlich.
»Ich werde telefonieren gehen«, verkündete Judith plötzlich und verschwand.
»Tun Sie das!«, rief der Hauptmann ihr hinterher und drehte sich zu seinen Männern herum.
Mehrere Minuten vergingen. Aus dem Musikzimmer war Gelächter zu hören; offenbar hatten die meisten Gäste von der bedrohlichen Lage noch nichts bemerkt. Der Diener stand ruhig und mit gesenkten Augen neben mir. Er blinzelte mir kurz zu, nur ganz kurz und dennoch vielsagend, weshalb ich spürte, dass auch er wusste, dass uns der Abtransport in einen Polizeikerker bevorstehen würde, wenn kein Wunder geschah.
Judith kehrte in die Halle zurück. Sie hatte Haltung angenommen. »Ich habe soeben mit dem Auswärtigen Amt telefoniert«, sagte sie. »Der Staatssekretär wird uns Hilfe schicken. Eine Schutzstaffel ist auf dem Weg zu uns.«
Der Polizeihauptmann zog die Brauen hoch, schien aber unsicher zu werden, denn er blickte auf seine Armbanduhr und erwiderte: »Das werden wir ja gleich sehen. Ich gebe Ihrer Schutzstaffel zehn Minuten. So lange bleiben Ihre Gäste dort in dem Zimmer! Meine Männer werden aufpassen, dass niemand den Raum verlässt – und dass niemand von der SA hineingeht. Ich warte draußen und schlage vor, dass Sie mich begleiten.« Mit diesen Worten wandte er
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