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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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hatte recht – mir selbst blieb, wie ihr, kaum mehr Zeit, eine freie Entscheidung zu treffen. War nicht ihr Vorschlag – bei allen Konsequenzen, die er hätte – tatsächlich der Ausweg aus meinem Dilemma?
    Ich dachte an den Drahtigen und seinen kräftigen Kumpan. Bislang hatte ich die Schläger nie mehr wiedergesehen, und dennoch hatte ich das Gefühl, dass sie nicht aus meinem Leben verschwunden waren, dass es nur eines kleinen Winks von berufener Seite bedurfte, damit sie sich erneut auf der Bildfläche meines Daseins breitmachten. Was sie in diesem Fall mit mir tun würden, hing allein von dem Befehl ab, den ihnen jemand gab: Wen kümmerte schon eine Leiche mehr oder weniger im Landwehrkanal oder in der Spree? Ein Menschenleben war derzeit in Deutschland nicht mehr viel wert.
    Meine Gedanken wanderten wieder zu Judiths Vorschlag zurück. Warum eigentlich nicht? Warum sollte ich sie nicht begleiten? Ich war doch im Reisen geübt! Wie schnell hatte ich vor ein paar Monaten dem Angebot zugestimmt, nach Amerika zu fahren. War es mir bestimmt, eine zweite Reise zu unternehmen? Eine Reise, die möglicherweise die Umkehrung oder Wiedergutmachung der ersten Reise sein konnte? Was hielt mich denn hier? Vielleicht war der ganze Spuk in Deutschland ja in ein paar Monaten vorüber; und wenn ich dann zurückkäme, hätte ich zwar einige wirtschaftliche Einbußen erlitten, aber ich wäre mir immerhin treu geblieben und frei für einen Neuanfang. Eine gemeinsame berufliche Zukunft mit Haller war im Grunde gerade jetzt für mich nicht mehr denkbar; die notwendige Basis für eine Zusammenarbeit war durch die bloße Existenz der ›Brüder und Schwestern vom Licht‹ zerstört.
    »Gut«, sagte ich.
    »Was heißt gut?«
    »Gut heißt ja! Ich werde dich begleiten, Judith.«
    Sobald ich das ausgesprochen hatte, spürte ich ein schweres Gewicht von mir genommen. Es war so schwer, dass ein tiefer Seufzer mir entrann.
    »Ich sage das erst einmal so«, setzte ich hinzu. »Es gibt natürlich Dinge, die mich zurückhalten, die gewissermaßen an mir zerren. Und ich werde in den kommenden Tagen so manches Mal mit dem Entschluss, den ich eben schnell gefasst habe, hadern. Dennoch hast du recht. Es ist nicht unbedingt mein Beruf, der mich hält. Vielmehr sind es die ganz persönlichen Dinge, meine Vergangenheit, meine Kindheit und …«
    »Es sind zehn Tage bis zum Abreisetag«, unterbrach sie mich, als hätte sie Angst, mein Mut zur Flucht könne mich schneller wieder verlassen, als der Entschluss dazu gefasst worden war. »Vielleicht kannst du das eine oder andere in der bis dahin verbleibenden Zeit noch erledigen. Ganz gewiss wird dir diese Frist reichen.«
    Mittlerweile war Judith noch einen Schritt näher gekommen und sah mir tief in die Augen. Für einen Moment dachte ich sogar, sie würde mich küssen, aber sie schien sich im letzten Moment zu besinnen.
    Dunkelheit hatte sich über den Garten gelegt. Es war ein milder Winterabend und der Februarmond strahlte in aller Herrlichkeit. Die Stadt lag fern. Nur ein paar Lichter von Fenstern und Laternen schimmerten durch das Dunkel hinter den Bäumen. Mit einigen Momenten der Verzögerung wurde mir klar, dass ich mich plötzlich freier fühlte. Eine erdrückende Last war von mir abgefallen.
    »Hör mir zu«, flüsterte Judith. »Du musst vorsichtig sein, damit du alles richtig machst. Lass alles zurück! Pack lediglich einen Koffer und erzähle niemandem von deinen Plänen. Wir werden vor der Abreise höchstens einmal zusammenkommen oder auch nur noch telefonieren. Am Abend des 27. musst du spätestens um elf Uhr am Anhalter Bahnhof sein. Die Fahrkarte für den Nachtzug nach Paris besorge ich dir.«
    »In Ordnung«, sagte ich und sehnte mich plötzlich danach, allein zu sein. »Ich werde jetzt gehen! Ich habe vieles zu überdenken. Es wird das Beste sein, wenn ich schnellstens mit den Vorbereitungen beginne.«
    Das Licht der Straßenlaterne drang zu uns herüber. Noch bevor wir die Pforte erreichten, blieb Judith stehen und wandte sich zu mir herum. Ich nahm ihren Kopf zwischen meine Hände und küsste ihren Mund.
    »Danke, Eugen«, flüsterte sie, indem sie sich von mir löste. »Danke, dass du diese Entscheidung getroffen hast. Sie ist richtig. Bleibe dabei! Schwache Momente werden kommen, doch sie gehen vorüber.«
    Ich schritt durch die Pforte. Ein paar Schritte weiter drehte ich mich ein letztes Mal um und schaute zurück. Judith stand noch an der Straße. Sie sah mir nach wie die treu

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