Spittelmarkt
sträubst, ihrer Willkür in ganz anderer Weise ausgeliefert, als du es bisher erlebt hast. Es mag irgendwann der Zeitpunkt kommen, wo du an keinem Abend mehr mit der Sicherheit zu Bett gehen kannst, dass nicht in der Nacht gegen deine Tür geschlagen wird und man kommt, um dich zu holen. Das grässliche Lebensgefühl, das daraus erwächst, mag dich dann endlich dazu zwingen, freiwillig auf diese Leute zuzugehen oder allen einflussreichen Stellen deine Loyalität zu versichern, in der trügerischen Hoffnung, dass man dich weiterhin in Ruhe lässt. Es scheint mir, das ist das Schicksal, das dir – ebenso wie vielen anderen Menschen – hier in Deutschland blüht.«
»Falls ich tatsächlich vor dieser Wahl stehe, muss ich eben das Beste daraus machen«, verkündete ich trotzig, während ich doch fühlte, dass Judiths Beurteilung richtig war: Ich stand zwischen zwei völlig unmöglichen Alternativen.
»Es gibt natürlich noch eine dritte Möglichkeit«, sagte Judith leise.
»Und die wäre?«
»Du begleitest mich nach Paris!«
Ich starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Meinst du das im Ernst?«
Judiths Blick war ganz fest. »Ja, ganz ohne Einschränkungen.«
»Was soll ich in Paris denn tun? Ich bin ein deutscher Jurist! Französisch spreche ich nicht – oder kaum – und die französische Juristensprache ist mir vollständig fremd!«
»Was du in Paris tun kannst, wird sich finden, wenn du dort bist. Das Leben geht weiter. Außerdem bin ich, wie du weißt, nicht ganz unvermögend; der Hausverkauf hat natürlich dazu beigetragen, dass ich recht gut dastehe. Ich würde dich fürs Erste schon nicht verhungern lassen.«
Ein, zwei Sekunden lang spürte ich einen Schwindel, wie er einen packt, wenn man nach langem Suchen im Dunkeln endlich einen Ausweg gefunden hat. Doch die Zweifel, die den Schwindel begleiteten, versuchten sofort, Oberhand zu gewinnen und mich zurück ins Dunkel zu ziehen.
»Das ist nett von dir, aber ich begebe mich nicht gern in Abhängigkeit.«
»Und das sagst du, obwohl du weißt, welche Abhängigkeiten dich hier erwarten, Eugen? Als ob du in Deutschland noch lange dein eigener Herr sein könntest!«
Wir setzten unsere Wanderung durch den Garten fort. »Ich gebe ja zu, dass die Vorstellung, außer Landes zu gehen, etwas Reizvolles hat«, sagte ich. »Doch es geht nicht, denn ich muss …«
»Du musst gar nichts!«, unterbrach sie mich. »Und es geht immer – manchmal ist das Leben so, dass es eine mutige Entscheidung verlangt. Dann bleibt einem nichts anderes übrig und man muss die anderen Optionen fallen lassen. Was hast du hier in deinem Vaterland denn zu verlieren? Etwa diese Frau? Sie ist nur ein böser, wenn auch verführerischer Traum! Selbst wenn du sie irgendwann finden solltest – was erwartest du dir von ihr? Also verlier keine Zeit und lass von dieser Obsession ab! Es kann schnell zu spät sein. Am 5. März finden die Reichstagswahlen statt, von denen sich die Nationalsozialisten eine überzeugende Mehrheit erwarten. Bis dahin werden diese Leute wohl eine gewisse Zurückhaltung üben. Aber was kommt danach? Alle guten Freunde, die etwas davon verstehen, haben mir geraten, die Wochen bis zum Wahltag zu nutzen – und es ist nur noch wenig mehr als zwei Wochen bis dorthin. Ich habe mich entschieden. Ich warte nicht bis zum letzten Tag. Bereits Ende dieses Monats werde ich aus Deutschland verschwunden sein. Tu einen Schritt, Eugen! Lass das alles hinter dir und schließ dich mir an!«
Es würde vielleicht nicht einmal mehr bis zum 5. März dauern, dass die ›Brüder und Schwestern vom Licht‹ eine Entscheidung von mir verlangten, ging es mir durch den Kopf. Schon jetzt konnten sie jeden Tag zu mir kommen. Ich versuchte, es zu verhindern, allerdings dachte ich an Irene, an Veronika, an das Bild ihres entzückenden Körpers, ein Bild, an das sich die vage Hoffnung knüpfte, die Konsequenzen eines Arrangements mit der neuen Macht würde mir auf gewisse Weise versüßt werden. Doch es konnte kein Zweifel bestehen, dass ich dann, wenn ich der Verführung nachgäbe, erst recht in der Hand dieser Leute war. Das würde das schönste erotische Vergnügen nicht aufwiegen können, wenn ich die eigene Seele an den Teufel verriet. Diese Organisation war um vieles mächtiger als ich. Erst in diesem Moment begriff ich wirklich, dass es eine nur zu durchsichtige Illusion war, ich könne auch als einer von ihnen ein freier und persönlich integrer Mensch bleiben. Judith
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