Spittelmarkt
nachzusehen, wo genau sich das Hotel befand. Sowohl der Aranerhof als auch der Adlerhof waren darin verzeichnet. Beide Hotels lagen in der Nähe des Spittelmarkts am östlichen Rande von Friedrichstadt und waren zu Fuß bequem für mich zu erreichen. Ich stand auf und trat zum Fenster.
Am Himmel waren Wolken aufgezogen, die Sonne war vollständig verschwunden. Es war erst halb fünf; genügend Zeit, um einen Abstecher zum Spittelmarkt zu machen. Ja, dachte ich, es wurde Zeit, dass ich ging!
Ich würde gleich das Büro verlassen, sagte ich mir, und einfach noch einen kleinen Spaziergang durch Berlin Mitte unternehmen, bevor ich ein letztes Mal in meine Wohnung zurückkehrte, mich reisefertig machte und mein restliches Geld einsteckte, um mich auf den Weg zum Anhalter Bahnhof zu begeben.
Ich trat zum Schreibtisch zurück und klappte die Akte zu. Es war vorbei! Von einem Augenblick zum anderen hatte die Welt, für die diese Akte stand, ihre Bedeutung verloren; ein kurzes Telefongespräch hatte dieses Kapitel meines Lebens endgültig abgeschlossen und ein anderes eröffnet. Eines, das ich noch nicht kannte, und wenn ich mir bis eben noch vorgestellt hatte, meine Fahrt nach Paris mochte nicht mehr als ein längerer Ausflug sein, so begriff ich in diesem Moment, dass es eine Abreise für immer war.
Ich würde nicht wieder zurückkehren; jedenfalls nicht in diese Räume, nicht in dieses Haus – auf Jahre nicht – oder womöglich nie! Ich wusste es, wenn ich auch nicht zuordnen konnte, woher diese Gewissheit kam.
Plötzlich wurde ich von einem Gefühl tiefer Beunruhigung erfasst. Die Gelassenheit, die mich seit dem Aufstehen am frühen Morgen begleitet hatte, war wie weggewischt. Mit einem Mal war mir klar, dass ich überhaupt keine Zeit mehr hatte, sondern dass ich fliehen musste, so schnell wie möglich. Was mich nun ganz unerwartet überkam, war nahe an einer Panik.
Woher kam auf einmal diese Furcht? Es gab dafür keinen Grund, der sich an irgendeinem Faktum festmachen ließ, es war lediglich eine tief greifende Ahnung von etwas Bösem, das kommen würde, wenn ich keine Schritte dagegen unternahm. Ich wusste, dass es diesmal keine Täuschung war. Das Gefühl trog nicht, ich musste schnell fort.
Ich nahm meinen Schlüssel, schaute mich ein letztes Mal in meinem Arbeitszimmer um und ging hinaus.
»Ich muss zu einem alten Mandanten, der nicht mehr laufen kann«, sagte ich zu Frau Schmitz, die im Vorzimmer saß, »er hat ein dringendes Problem. Wahrscheinlich komme ich heute nicht mehr herein.«
Frau Schmitz sah nur kurz auf und nickte. »Ja, gut! Ich weiß Bescheid. Bis morgen!«
Ich nahm meinen Mantel von der Garderobe, zog ihn an und ging durch die Tür.
Das war’s!
Draußen auf der Straße hielt ich noch einmal inne und ließ den Blick über die prächtigen Fassaden der Häuser wandern.
Berlin war wirklich eine schöne Stadt, dachte ich, sogar zu dieser trüben Jahreszeit, und auch das unwirtliche Wetter änderte daran nichts. Geschäfte, Reklamen, Busse, Straßenbahnen, Taxis, die Menschen auf den Bürgersteigen; eigentlich hätte ich ganz gern drüben im Lokal ein Glas Martini getrunken. Selten hatte ich es getan; es war normalerweise keine Zeit dafür da, und nun – es war doch immer das Gleiche! – da der Augenblick kam, in dem man es gern gewollt hätte, war es ganz unerwartet bereits zu spät, um es auch nur ein einziges Mal noch zu tun.
Ich verließ die Friedrichstraße und ging über den Hausvogteiplatz in Richtung des Spreekanals. Der Aranerhof lag von den beiden Hotels am nächsten, kaum mehr als 500 Meter von meiner Kanzlei entfernt.
Ganz so nahe war es nicht, sagte ich mir im Weitergehen; 500 Meter war stark untertrieben; sicherlich waren es 1.000 Meter oder noch mehr – aber wie auch immer –, weit zu gehen war es nicht.
Aranerhof – woher kannte ich nur diesen Namen? Ich hielt inne und blieb einen Augenblick stehen. 500 Meter? Wo hatte ich diese Zahl eigentlich her? Es war klar, dass ich mir keine genaue Entfernung vorgestellt hatte, sondern mir selbst mittels einer großzügig abgerundeten Zahl nur hatte vermitteln wollen, dass mein Ziel schnell zu erreichen war – trotzdem empfand ich, dass an der Entfernungsangabe etwas seltsam Unstimmiges, um nicht zu sagen Fremdes war.
Am Spreekanal angekommen marschierte ich am westlichen Ufer entlang nach Süden und betrat dann die steinerne Brücke, die den kleinen Wasserarm der Spree überquerte und auf deren Brüstung, in Bronze
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