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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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sorgende Ehefrau, die ich nie hatte, dabei hob sich sanft ihre Silhouette vor dem weichen weißen Mondlicht ab.

22
    Mein ganzes Tun war zunächst von der Notwendigkeit bestimmt, alle beruflichen Aufgaben, die ich übernommen hatte, bis zu meiner geplanten Abreise so gut wie möglich zu erledigen. Ich hatte das Bedürfnis, mein Büro an jenem Tag in der Gewissheit zu verlassen, die Dinge so geordnet zu haben, dass Haller oder ein Nachfolger keine Schwierigkeit hätten, in der Bearbeitung der unerledigten Fälle fortzufahren. Mit noch größerem Einsatz als gewöhnlich widmete ich mich der Bewältigung meiner Arbeit. Das verschaffte mir zugleich die Möglichkeit, nicht allzu oft an mein Vorhaben denken zu müssen; denn ich fürchtete von Tag zu Tag aufs Neue, ich könnte meinen Entschluss womöglich wieder umstoßen, wenn ich zu viel Zeit hatte, über meine Zukunft zu grübeln.
    Nebenher erledigte ich in aller Heimlichkeit die notwendigen Reise- und Bankformalitäten und verschaffte mir so viel Geld wie möglich, ohne dass es an der falschen Stelle Argwohn erregte. Was meine privaten Belange betraf, war ich schnell zu der Überzeugung gelangt, dass der radikale Bruch mit meinem bisherigen Leben die Erledigung meiner ungelösten Probleme und Schwierigkeiten war. Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, Deutschland bei Nacht und Nebel den Rücken zu kehren, sehnte ich mich nicht mehr nach persönlichen Begegnungen, auch nicht danach, meine Schwester vor meiner Abreise noch einmal zu sehen.
    Am Freitag vor der geplanten Abfahrt traf ich mich um die Mittagszeit mit Judith in einem Café, um die letzten Formalitäten zu besprechen. Bei dieser Gelegenheit gab sie mir auch die Anschrift ihrer französischen Freunde in Paris bekannt.
    »Fast hätte ich es vergessen!«, rief sie dann, griff nach ihrer Handtasche und nahm einen Umschlag heraus. »Der versprochene Abzug von Wolfraths Foto! Möchtest du das noch haben?«
    Auch ich hatte gar nicht mehr an das merkwürdige Foto gedacht. »Doch, ja, auf jeden Fall«, sagte ich, während ich mich an meine damalige Reaktion beim Betrachten des Bildes erinnerte. Vorsichtig zog ich das Foto aus dem Umschlag, starrte darauf und verspürte erneut ein Erschrecken beim Anblick der unheimlichen Szene und des seltsamen Ausdrucks auf dem Gesicht des jetzigen Kanzlers. Das eigentümliche Gefühl eines Wiedererkennens stellte sich erneut ein, eine Art Déjà-vu, fast so, als hätte ich selbst der unheimlichen Szene beigewohnt, sie aber gleich darauf wieder vergessen.
    »Pass auf, dass du es gut versteckst«, warnte Judith, als ich das Foto in den Umschlag zurücklegte und diesen in die Innentasche meines Mantels stopfte. »Man weiß nicht, wie ein Kontrolleur an der Grenze reagiert, wenn er durch einen dummen Zufall auf ein solches Foto stößt.«
    »Ja, mal sehen, ob ich es überhaupt mitnehme. Vorerst behalte ich ja meine Wohnung. Bislang habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Dinge in absehbarer Zeit wieder zum Besseren entwickeln.«
    Judith erwiderte nichts. Und nachdem wir vereinbart hatten, uns am Montagabend um elf Uhr auf dem Bahnsteig wiederzusehen, gingen wir auseinander.
    Auf ihren Ratschlag hin packte ich noch am selben Abend meinen Reisekoffer, legte das meiste Geld und die wichtigsten Dokumente hinein und brachte ihn im Schutz der Dunkelheit zum Anhalter Bahnhof, um mein praktisch einziges Gepäckstück bis zur Abfahrt in einem Schließfach zu deponieren. Den Schlüssel dazu befestigte ich an einer Halskette, die ich unter dem Hemd an meinem Körper trug.
    Die Zeit, die folgte, verbrachte ich allein; in meinem Büro, um ein paar restliche Arbeiten zu erledigen, überwiegend aber in meiner Wohnung, wo ich meinen Restbestand an Rotwein leerte und in alten Büchern stöberte, die ich nicht auf die Reise würde mitnehmen können. Bei dieser Gelegenheit stieß ich in meiner Bibliothek auf eine Sammlung moderner Lyrik, die auch das Gedicht von Stefan George enthielt, das Doris mir bei meinem Besuch in ihrer Wohnung vorgetragen hatte.
    Ich stellte fest, dass Rudolf, ihr Ehemann, damals richtig angemerkt hatte, dass die letzten beiden Strophen des Gedichts nicht Teil ihres Vortrags gewesen war.

    ›Ihr jauchzet.. entzückt von dem teuflischen schein..
    Verprasset was blieb von dem früheren seim
    Und fühlt erst die not vor dem ende.

    Dann hängt ihr die zunge am trocknenden trog..
    Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof..
    Und schrecklich erschallt die

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