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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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aufschloss, durch die wir in einen Gang gelangten, der in Größe und Gestalt demjenigen ähnelte, den wir weiter unten verlassen hatten. Das Ambiente der Räumlichkeit, in die wir durch den Hintereingang eingedrungen waren, unterschied sich aber auf eindrucksvolle Weise gänzlich von der langweiligen Eleganz des Hotels. Der Gang war vom Anfang bis zum Ende mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt und die Wände selbst waren mit schwarzem Holz getäfelt, wobei in regelmäßigen Abständen Kehlungen in das Holz eingelassen waren, aus denen eine schwache Beleuchtung hervordrang, sodass das gesamte Geschoss in einem eigenartig traumhaften Dämmerlicht lag.
    Vom Flur gingen mehrere Türen ab, doch erst durch den Ritter mit der Lanze kehrte bei mir die Erinnerung an meinen früheren Aufenthalt in diesen Räumen zurück. Kurz darauf schob meine Führerin eine Flügeltür auf, und da sah ich, dass wir uns bereits in dem Saal befanden, in dem vor einigen Wochen die Einweihungszeremonie Veronikas stattgefunden hatte.
    Frau von Tryska schaltete eine Lampe an, die neben der Tür auf einer Kommode stand. Der Lichtschein war schwach und reichte nicht hin, das düstere Zwielicht, das rundherum herrschte, zu vertreiben.
    »Ich erkenne den Raum wieder«, sagte ich, nachdem ich eine Weile die düsteren Schatten in den Nischen betrachtet hatte. »Hier finden die Treffen der Gesellschaft statt?«
    Frau von Tryska, die im Eingangsbereich stehen geblieben war, traf keine Anstalten, nach einem weiteren Lichtschalter zu suchen.
    »Wir kommen hier nur zu den besonderen Anlässen zusammen«, erwiderte sie. »Für die weniger spektakulären Treffen haben wir einen Raum in einer Gaststätte nahe dem Alexanderplatz gemietet. Ich selbst nehme zwei oder dreimal im Jahr an unseren Zusammenkünften teil. Meine Zeit erlaubt es mir nicht, öfter nach Berlin zu reisen.«
    Sie wartete noch ein Weilchen, dann wandte sie sich zum Weitergehen, und wir verließen den Zeremoniensaal. Meine Führerin geleitete mich den Flur entlang und wir umrundeten die Ecke am Ende des Ganges aus der entgegengesetzten Richtung, im Vergleich zu damals, bevor sie an einer Tür zu einem linkerhand gelegenen Zimmer erneut stehen blieb.
    Die Tür zu diesem Raum war nur angelehnt, als wäre eben erst jemand hindurchgegangen. Sowie wir ihn betraten, befanden wir uns in der Bibliothek, in der ich Santor zum ersten Mal begegnet war.
    »Das alles hier ist groß und geräumig«, stellte ich fest. »Gehören die Stockwerke weiter oben auch zu den Gesellschaftsräumen?«
    »Nein. Dort befinden sich – Wohnungen.«
    »Wer wohnt denn dort?«
    »Wohnungen ist nicht ganz richtig. Es sind Zimmer, ja – so ein bisschen wie unten im Hotel. Gästezimmer – und außerdem leben dort ein paar Kinder mit ihrer Erzieherin.«
    »Kinder?«
    »Ja. Kinder, für deren Unterhalt und Bildung wir sorgen. Wir fördern diese Kinder in jeder nur erdenklichen Weise. Man könnte dieses Haus als ein kleines Internat bezeichnen.«
    »Sind es Waisenkinder?«
    »Die meisten Kinder wurden uns auch von den Eltern anvertraut. Es sind besondere Kinder – wertvolle Kinder.«
    »Gibt es wertvolle und weniger wertvolle Kinder?«
    »Die Menschen sind nicht gleich. Es gibt rassisch wertvolle und rassisch minderwertige Kinder.«
    Natürlich. Ich hatte für einen Moment vergessen, dass ich mit einer strammen Nationalsozialistin sprach. »Ich verstehe, deutsche Kinder haben einen besonders hohen Wert.«
    »Die Jungen und Mädchen, die hier im Hause leben, sind nicht einfach nur deutsche Kinder, sie weisen ganz besondere Rassemerkmale auf, durch die sie als in der menschlichen Entwicklung besonders hochstehende Kreaturen gekennzeichnet sind.«
    Sie schien das Befremdliche ihrer Worte, das Sektiererische ihrer Sprache nicht mehr zu bemerken.
    »Und was hebt diese Kreaturen, wie Sie sagen, aus der gewöhnlichen Masse der Menschen hervor?«
    Ein Geräusch, das von der Tür kam, ließ mich zusammenfahren, und sowie ich mich umdrehte, erblickte ich einen Jungen von acht oder neun Jahren, der eben das Zimmer betreten hatte.
    »Da ist ja einer unserer Jungen«, sagte Frau von Tryska.
    Er trat zögernd näher.
    »Wie heißt du?«, fragte sie und lächelte dem Knaben aufmunternd zu.
    »Harald«, antwortete der Junge. »Harald Franken.«
    Er war schlank, die Gestalt in ziemlich gefälligen Verhältnissen gebaut, die Haare blond und die Gesichtszüge fein und angenehm geschnitten. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, eine jüngere

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