Spittelmarkt
wieder die Sonne über Berlin aufgehen sehen?
»Sie selbst, Herr Goltz, haben die Zeichen der Zeit ganz richtig erkannt«, hörte ich sie sagen. »Ich freue mich, dass Sie zu uns stoßen wollen. Der Mensch benötigt einen persönlichen Mythos, den er leben kann; nur dadurch gewinnt er seine Freiheit – seine wirkliche Freiheit.«
Mir schien, dass es Zeit war, das Thema zu wechseln, bevor ich jedoch dazu kam, tat sie es selbst.
»Wie kommt es eigentlich«, fragte sie, »dass Sie mich hier gefunden haben?«
»Erinnern Sie sich nicht, dass Sie mir auf unserer Reise einmal von diesem Hotel erzählten?«
»Tatsächlich? Habe ich das getan? Zuweilen bin ich einfach zu gesprächig. Es ist mein rheinisches Temperament. Allerdings konnten Sie nicht wissen, dass ich in Berlin sein würde!«
»Wohl aber ahnen. In Zeiten wie diesen mussten Sie doch in der Hauptstadt sein.«
»Sie haben recht. Ich hoffe sogar darauf, an einem der nächsten Tage vom Führer persönlich empfangen zu werden. Ich habe der Partei gelegentlich mit etwas Geld ausgeholfen, wenn es knapp wurde, und er ließ mir mitteilen, dass er sich für diese Unterstützung herzlich bedanken wolle.«
Sie erhob sich aus ihrem Sessel, trat zum Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus. Ein hoffnungsfroher Glücksschimmer hatte sich über ihre Züge gelegt, so als sei sie von der bevorstehenden Begegnung bereits tief ergriffen. Es war nicht zu übersehen, wer der Lichtbringer ihres Lebens war.
»Was ist das für ein Haus?«, fragte ich sie. »Gewiss ist es kein Zufall, dass sich Ihr Berliner Hotelquartier unter diesem Dach befindet.«
Sie schaute zu mir her. »Warum sagen Sie das?«
Ich zeigte mit dem Finger zur Decke. »Man hat mich eines Nachts mit verbundenen Augen in eine der oberen Etagen geführt, als könnte ich etwas ganz Schreckliches entdecken. Gewiss hätten Sie die Möglichkeit, mir den oberen Teil des Gebäudes zu zeigen.«
Ihr Blick konzentrierte sich und ihre Augen begannen mich wie Röntgenstrahlen zu durchdringen.
»Was erwarten Sie dort oben zu sehen?«
Falls ich noch einen kleinen Zweifel daran gehegt hatte, ob der Pfarrer Grüttner sich nicht in der Adresse geirrt haben könnte, so war dieser Zweifel jetzt ausgeräumt.
»Man wird einfach neugierig, wenn man auf ein Geheimnis trifft. Habe ich nicht ein Anrecht darauf, als zukünftiger ›Bruder vom Licht‹ die Räumlichkeiten unserer Gesellschaft zu kennen?«
»Möchten Sie damit nicht lieber warten, bis Sie auch ganz offiziell ein ›Bruder‹ sind?«
»Es liegt an meinem Beruf, dass ich immer genau wissen muss, worauf ich mich einlasse.«
Sie kniff die Augen zusammen und ein unerbittlicher Zug zeigte sich in ihrem Gesicht. »Haben Sie bedacht, dass Sie mehr sehen könnten, als Ihnen lieb sein mag?«
»Seien Sie ganz unbesorgt«, sagte ich und zwang mich, sie freimütig anzusehen, »damit werde ich schon fertig.«
Sie nickte. »Wenn die Warnung überflüssig war, umso besser. Ich rechne fest mit Ihnen!«
Ich stand aus meinem Sessel auf. »Sie erfüllen mir demnach meinen Wunsch?«
»Sie sehen mich an, als könnten Sie keinen Augenblick länger warten, nach oben zu kommen. Wenn Sie es sich so sehr wünschen, gehen wir eben hinauf!«
Mit diesen Worten drehte sie sich weg und trat zu einer Garderobe neben dem Kleiderschrank, um einen Mantel vom Bügel zu nehmen.
Ich half ihr in den Mantel, danach verließen wir gemeinsam das Zimmer.
Die Verbindung zum oberen Teil des Gebäudes existierte in Form einer unscheinbaren kleinen Tür, die sich ganz am Ende des Flures befand und die wie der Eingang zu einer Besenkammer wirkte.
Frau von Tryska öffnete die Tür mit einem Schlüssel, den sie aus ihrer Manteltasche nahm. Nachdem wir beide hindurchgeschlüpft waren, befanden wir uns in einem Hintertreppenhaus, das aus einer sich schmal nach oben wie nach unten windenden Wendeltreppe bestand und dessen architektonische Gestaltung mich fatal an das unheimliche New Yorker Apartmenthaus erinnerte.
Meine Begleiterin verschloss die Tür zum Hotelflur von innen, und für ein paar Augenblicke befiel mich wieder das unangenehme Gefühl, gefangen zu sein. Einige Momente lang quälte mich die Vorstellung, an diesem Ort könnten Geschehnisse warten, die nicht minder unangenehm waren als meine Erlebnisse in Amerika.
Fürs Erste war ich erleichtert, als Frau von Tryska die Wendeltreppe hinaufging, auf einer Stufe Halt machte, sich der Wand zudrehte und mit ihrem Schlüssel eine unscheinbare Tür
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