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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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Ausgabe meiner selbst zu sehen, wie sie vor langer, langer Zeit einmal existiert hatte.
    Frau von Tryska war zu dem Jungen getreten und strich ihm mit der Hand über das seidige Haar und den Schädel.
    Harald zog schnell den Kopf zurück. »Ich wollte nur etwas holen, das ich vergessen habe«, sagte er mit einer hellen Stimme.
    »So hole es dir, Harald«, entgegnete Frau von Tryska und der Knabe entfernte sich in die Tiefe des Raums und blieb vor einer der Bücherwände stehen.
    Von draußen drang der Schein einer Straßenlaterne herauf. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war sechs Uhr vorüber und ging auf halb sieben. Bis zur Abfahrt meines Zuges war es eine lange Zeit.
    Der Junge stand von uns abgewandt an einem Regal, studierte aufmerksam die Buchreihen und einige der Aufschriften auf den Rücken verschiedener Bände.
    »Brauchst du Hilfe, Harald?«, wollte Frau von Tryska wissen.
    Der Junge antwortete nicht, sondern stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm eins von den Büchern aus dem Regal.
    »Hast du gefunden, wonach du suchtest, mein Lieber?«, fragte sie zu allem Überfluss.
    Harald drehte sich um. »Ich habe es«, sagte er und ging mit dem Buch, das er vor den Bauch gedrückt hielt, mit zügigen Schritten an uns vorbei, wobei er einen großen Bogen um uns machte, als hätte er Angst, dass Frau von Tryska nach ihm greifen würde, um ihn zu betatschen. Schnell und ohne uns mit einem weiteren Blick zu bedenken, eilte er aus dem Zimmer.
    »Ein hübscher Junge – dieser Harald«, merkte Frau von Tryska an. »Aber diese Kinder sind ja alle sehr hübsch.«
    Ich blickte mich um. Neben einem Spiegel mit einem vergoldeten Rahmen, von Bücherreihen umschlossen, hing ein Gemälde, das wertvoll wirkte und aussah, als ob es aus dem 18. Jahrhundert stammte. Es war darauf ein Uroboros zu sehen, der aus dem Kopf eines Mannes gebildet war, in den sich Vogelkrallen klammerten. Der Kopf des Vogels stellte die Haare des Mannes dar, der Kreis schloss sich, indem der Schnabel dem Mann in die Nase biss. Ein merkwürdiges Bild, das mich gleichwohl auf eine seltsame Weise berührte, es wirkte wie ein Vorzeichen, wie das Symbol des Lebenskreises, der sich schloss und wieder neu begann. Das Gesicht des Mannes war zu einem Grinsen verzogen, und auch der Vogel, der ihm in die Nase biss, schien zu lachen. Seltsam. Weder an den Spiegel noch an das Gemälde konnte ich mich von meinem früheren Besuch her erinnern.
    »Wie lange gibt es dieses – Internat denn schon?«, fragte ich.
    »Es wurde wohl kurz nach Beginn des Krieges eröffnet«, antwortete Frau von Tryska,
    Harald Franken? Ich überlegte; der Name klang nicht unvertraut. Woher kannte ich ihn?
    »Kennen Sie auch die Namen der anderen Kinder, die hier leben?«
    »Oh! Fast jedes Mal, wenn ich hier bin, lerne ich eines von ihnen kennen – diesmal also den Harald Franken. Wen kenne ich denn noch? Wolfgang Pauls, Verena Olden – nein, die weitere Namen kenne ich nicht oder sie fallen mir im Moment nicht ein.«
    Ein dumpfes, unheimliches Gefühl arbeitete in mir.
    »Verena Olden?«, hakte ich nach. »Ist dieses Mädchen mit Irene Olden alias Varo verwandt?«
    »Die Kleine ist ihre Tochter. Sie ist ein süßes, ganz reizendes Geschöpf.«
    Ich starrte sie an. »Und die Mutter – lebt sie hier auch? Bewohnt sie eines der Gästezimmer?«
    »Mag sein. Doch die Eltern der hier lebenden Kinder sind in aller Regel nur Besucher, nicht aber Dauermieter.«
    »Sie sagten, die Kinder, die hier leben, seien nicht nur deutsch, sondern rassisch besonders wertvoll – warum sind sie so wertvoll? Was ist das Besondere an ihnen?«
    Frau von Tryska sah mich an. Ihre Gestalt war von Schatten umlagert, ihre Augen jedoch waren klar und ruhig, wenngleich wie bohrend. »Ja, wissen Sie das denn nicht?«, fragte sie. »Können Sie es sich nicht denken?«
    »Ich habe so eine Ahnung«, murmelte ich.
    »Die wird Sie nicht trügen.«
    Ich nickte. »Es sind nicht die Kinder, sondern die Eltern, nicht wahr? Die Eltern dieser Kinder sind Geschwister. Der Vater von Verena Olden ist Roland Olden – so ist das, oder?«
    Sie lächelte. »Sehen Sie – manche Fragen beantworten sich ganz von selbst.«
    Die Nacht hinter dem Fenster war schwarz oder kam mir jedenfalls so vor. Ich dachte an Doris, meine Schwester. Meine Gedanken wanderten in unsere gemeinsame Vergangenheit zurück, ohne sich an einer bestimmten Erinnerung festmachen zu wollen, plötzlich überkam mich ein schwacher Anflug von Übelkeit.
    »Manche

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