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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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Augen zusammenzukneifen und schon erstand vor meinem inneren Auge das Bild von dir und mir. Weißt du noch? Damals war es Oskar Behrend, der uns zusammenführte. Der merkwürdige Zeremonienmeister neulich hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm.«
    Ein feines Lächeln umspielte im Augenblick ihre markanten Züge.
    »Sieh an, und ich dachte, du hättest das alles vergessen. Ich habe dich wohl unterschätzt. Darf ich erfahren, wie du heute über das denkst, was einmal geschah?«
    »Es war nicht richtig – es hätte nicht geschehen dürfen.«
    Sie sah mich mit hochgezogenen Brauen an. »Warum nicht? Hat es dir etwa keinen Spaß gemacht? Dass wir Geschwister sind, war dir zu jener Zeit ebenso bekannt. Warum hast du es denn getan, wenn du es nicht in Ordnung fandest?«
    »Ich war jung – ein junger Mann voller Sehnsüchte – und – du weißt.«
    »Ach ja – du Armer, ich weiß«, sagte sie leise, »obwohl wir Bruder und Schwester sind, hat dich deine fleischliche Begierde übermannt! Du konntest mir einfach nicht widerstehen.«
    »Da war die Maske«, verteidigte ich mich, »dein Haar über der Maske kastanienbraun – ich sehe dich wieder vor mir – deine Augen tiefgrün und voller Verlangen, die Haut seidenweich, wunderschöne Schultern wie honigfarbener Marmor – so warst du seinerzeit, Doris – welcher junge Mann hätte dir widerstehen können? Vielleicht lag es an den Masken, dass ich die letzten Hemmungen fallen ließ. Die Zeremonie hatte durchaus etwas vom Charakter einer Karnevalsveranstaltung, wo unter dem Schutz von Masken die Unzüchtigkeiten, die sonst nicht geduldet werden, ausnahmsweise erlaubt sind.«
    »Karnevalsveranstaltung?«, sagte sie leise, fast drohend. »Kommst du darauf, weil wir heute Rosenmontag haben? Sprich nur weiter – ich höre dir zu!«
    »Außerdem war da natürlich Behrend mit seinen merkwürdigen Theorien. Und nachdem ich bereits durch ihn seelisch darauf vorbereitet war, mich vor den Augen der anderen Mitglieder des Kreises mit einem Mädchen, das er auswählen würde, zu vereinigen, besaß ich einfach nicht die Kraft, deiner Verführung Widerstand zu leisten, vor allem während ich dich – ich gebe zu: nicht nur entsetzt, sondern auch entzückt – in deiner herrlichen Nacktheit erblickte.«
    Doris nickte. »Man hat dich quasi gezwungen, das willst du doch sagen! Und eigentlich hast du mich wegen der Maske gar nicht richtig erkannt, nicht wahr? Und sowieso war Karneval. Und irgendeine lüsterne Hure, die zufällig deine Schwester war, hat dich armen, jungen Mann verführt. Du wurdest überrumpelt. Nicht ich bin das Opfer, sondern du!« Sie nickte wieder. »Genau so habe ich es mir gedacht.«
    »Dreh mir nicht die Worte im Munde um, Doris! Ich habe nicht gesagt, dass ich unschuldig bin.«
    »Aber nur ein bisschen schuldig, nicht wahr? Schließlich bist du ja ein Mann – ein Mann mit einem Speer!«
    Sie lachte, allerdings las ich etwas in ihrem Gesicht, das mir nicht gefiel. Mir wurde dabei bewusst, wie schön sie immer noch war.
    »Du hast mir von deinen Erinnerungen erzählt«, begann sie nach einer Weile, »nun will ich einmal deine Erinnerungen etwas auffrischen. Diese reichen etwas weiter zurück als bis zu dieser ›Karnevalsveranstaltung‹. Ich erinnere mich an einen Sommerabend, der sehr viel weiter zurücklag, weißt du noch?«
    Ich schwieg.
    »Erinnerst du dich daran?«, wiederholte sie.
    »Es ist lange her«, flüsterte ich.
    »Ich war 13, du 15.«
    »Wenn du es sagst.«
    »Wir sprachen von Verführung! Von Behrend, der dich verführte, von meiner herrlichen Nacktheit, der du nicht widerstehen konntest; nun frage ich dich: Wie war es denn damals, als du 15 warst und ich 13?«
    »Wir waren auch zu jener Zeit den Einflüsterungen von Behrend ausgesetzt.«
    »Du warst mein großer Bruder«, entgegnete sie hart, »mein über alles geliebter großer Bruder, dem ich wie niemandem sonst auf der Welt vertraute! Alles, was dieser Bruder zu mir sagte, war für mich eine unumstößliche Wahrheit, und das wusste dieser Bruder auch. Nun hör gut zu: Dieser Bruder sprach zu mir, seiner kleinen Schwester, dass wir Gefährten seien, die keine Geheimnisse voreinander haben bräuchten und keinerlei Scham voreinander empfinden müssten. Deshalb war es ganz normal für uns, nackt beieinander zu sein. Auch, dass du mir deinen Speer zeigtest und zu mir sagtest: Fass ihn ruhig an, es ist schön, wenn du das tust! Ich weiß nicht mehr genau, wann es begann, aber an jene Sommernacht im

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