Spittelmarkt
gewesen, in eine neue Existenz fliehen zu können, welche mit der ihrigen nichts zu tun hatte. In dieser Hinsicht lag sie richtig.
»Welche Entscheidungen? Was heißt das: als alles längst vorüber war? Was ist aus unserem Kind geworden? Hast du es zur Adoption freigegeben?«
Sie schien mich kaum mehr zu beachten, sann wohl gerade auf irgendeine Heimtücke, denn noch immer bildeten ihre Augen eine starre, undurchdringliche Linie.
»Doris, bitte!«, wiederholte ich. »Nun sag es mir doch!«
Sie rührte sich nicht. »Natürlich ist es tot«, sagte sie dumpf.
»Tot?«, fragte ich, und es klang bestürzt, doch insgeheim fühlte ich so etwas wie Erleichterung. »Woran ist es denn gestorben – und wann?«
Sie richtete den schmalen Blick auf mich. »Es starb gleich nach der Geburt.«
»So war es nicht lebensfähig?«
Nun hob sie die Lider. »Warum sollte es nicht lebensfähig gewesen sein?«
»Nun, natürlich wegen des Inzests.«
»Aha! Natürlich, wegen des Inzests!«
Sie wurde plötzlich ganz ruhig, aber ihre Augen funkelten mich böse an. »Ja, es stimmt! Unser Kind hat Pech gehabt. Es hatte die falschen Eltern.« Ihre Stimme war ganz kalt und stumpf geworden. »Man weiß ja nicht genau, welche versteckten Erbanteile unserer Vorfahren in uns schlummern – auch wenn sie bei uns selbst nicht in Erscheinung getreten sind. Das passiert eben, wenn man das Kranke und Minderwertige am Leben lässt: Es setzt sich immer wieder in der Nachkommenschaft durch. Zum Glück ist endlich eine Zeit angebrochen, wo sich das ändern und die fortschreitende Degeneration der menschlichen Rassen ein Ende finden wird.«
Ein Detail hatte ich noch nicht verstanden. »War es nun lebensfähig – oder war es nicht lebensfähig?«, wollte ich erneut wissen. »Was für eine Krankheit hat es denn gehabt?«
Sie sah eine Weile stumm vor sich hin. »Ganz einfach! Es hatte nicht die Rassemerkmale, wie wir sie uns in unserer Gesellschaft wünschen. Es sah aus wie ein Judenbalg, ob es krank war, das weiß ich nicht. Der Arzt fragte mich, was mit dem Kind geschehen solle. Und da dachte ich an dich, der du das Kind und seine Mutter verlassen hattest. An den, der das große Werk verraten hatte, indem er mich vergewaltigte und mir ein Kind machte, das ich überhaupt nicht haben wollte. Und ich dachte, wenn er das Balg nicht haben will, so will ich es auch nicht haben, und da«, ihre Stimme wurde lauter, als wollte sie sich selbst Mut zusprechen, »sagte ich zu dem Arzt: Schmeißt es in den Ofen!«
Ich prallte zurück. »In den Ofen? Ihr habt es umgebracht?«
»Reg dich nicht auf! Werd jetzt bloß nicht scheinheilig! Du wolltest selbst, dass es weggemacht wird! Nichts anderes haben wir getan!«
»Aber was ist denn das für ein Ofen?«
Sie sah mich nicht mehr an. »Im Keller«, ließ sie mich teilnahmslos wissen, »da gibt es einen großen Ofen – in dem werden die Leichen verbrannt.«
»Meinst du den Keller unter dem Hotel?«
»Keine Sorge! Alle Spuren sind beseitigt. Ein Uneingeweihter findet den Zugang zu diesen Gewölben nicht. Davon abgesehen: Nun spielt es keine Rolle mehr. Früher hatte ich gelegentlich einmal Angst, es könnte etwas bekannt werden. Seit ein paar Wochen habe ich diese Angst nicht mehr! Jetzt sind wir an der Macht! Wie ich dir schon sagte: Ich atme endlich eine freie Luft!«
Für einen Augenblick war ich sprachlos vor Entsetzen.
»Warum habt ihr das getan, Doris? Warum denn bloß?«
»Starr mich nicht so entgeistert an!«, antwortete sie. »Wir sind keine Unmenschen – im Gegenteil! Bereits unsere Vorfahren, die Germanen, haben ganz selbstverständlich eine natürliche Auslese gepflegt. Kranke Kinder wurden einfach ausgesetzt, man ließ sie verhungern und verdursten. Das war brutal, nicht wahr? Aber so waren sie halt, die alten Germanen. Unsere Methoden sind dagegen menschlich. Die Körper werden auf eine humane Weise getötet und dann verbrannt. Es geht alles sehr schnell. Natürlich – bei den alten Germanen kam es viel seltener zu Eliminierungen, denn ihre Rasse war nicht 2.000 Jahre lang verseucht worden, wie es mit der unsrigen geschehen ist. Allerdings ist es so. Unsere heutige Generation ist dazu berufen, das wieder zu ändern! Man muss eben über ein paar Generationen lang eine konsequente Rassenhygiene betreiben. Wir müssen es auf uns nehmen, das Problem zu lösen. Es wird uns gelingen, endlich ist es gewiss! Was wir bisher heimlich tun mussten, wird bald ein Gesetz in Deutschland sein! In den Etagen
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