Spittelmarkt
Internatsgarten erinnere ich mich sehr gut – in jener Nacht waren wir das erste Mal richtig miteinander vereint, so nanntest du das. Erinnerst du dich? Es war im Sommer und lange vor diesem sogenannten Karneval.«
Mir war ganz heiß geworden. Es war natürlich nicht das, worüber ich mit ihr hatte sprechen wollen. »Das tut doch nun nichts mehr zur Sache. Behrend und seine Theorien standen in jenem Sommer schon Pate.«
»Und ob das was zur Sache tut! Es bedeutet nämlich, dass du Behrends Auftritt in meinem Leben vorbereitet hast, ihn erst ermöglicht hast, sodass ich ihm sofort glaubte, als auch er erkannte, dass wir nicht nur Geschwister im landläufigen, sondern Bruder und Schwester im metaphysischen Sinne waren! Sowie er uns sah und sagte, wir müssten ein chemisches Brautpaar werden, wir wären von Anfang an dazu bestimmt, miteinander das große Werk zu vollbringen, da glaubte ich ihm. Das große Werk – hörst du! Die Vereinigung des männlichen mit dem weiblichen Prinzip, um dadurch Erlösung zu finden!«
»Es gibt kein großes Werk! Das alles ist und war Unsinn!«
»Erlösung, Freiheit, Unsterblichkeit«, fuhr sie unbeirrt fort, »um nichts weniger ging es uns damals, und die körperliche Vereinigung in der rechten Weise war der Weg, der das große Werk zustande bringen sollte.«
Sie schluchzte laut auf. »Es war der Weg, der das große Werk auch zustande gebracht hätte – wenn du unser gemeinsames Ziel und mich nicht verraten hättest. Du, der du es überhaupt erst auf den Weg gebracht hast, du Verräter!«
Die Knöchel ihrer langen Finger waren weiß geworden, sodass ich befürchtete, das Weinglas, das sie ergriffen hatte, würde gleich zerspringen.
»Du lenkst vom Thema ab, Doris! Sag mir lieber, was mit dem Kind geschehen ist? Wann wurde es geboren? Wie alt ist es jetzt? Was ist aus ihm geworden?«
Sie starrte mich mit schmalen, bösen Augen an, zudem lag ein Anflug unverhohlenen Spotts auf ihrem Gesicht.
»Meinetwegen! Reden wir also über das Kind! Du willst wissen, wann es geboren wurde? Hier die Antwort: Ungefähr ein halbes Jahr, nachdem du mich verlassen hast, kam es zur Welt.«
»Wo ist dein Kind jetzt?«
»Dein Kind, dein Kind«, echote sie. »Es war auch deines!«
Einige dumpfe Augenblicke lang blieb ich still.
»War es das wirklich? Ist ein Irrtum ausgeschlossen?«
Sie atmete tief ein und aus. Dann schloss sie die Augen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Sobald sie mich wieder ansah, bildeten ihre Augen einen schmalen Schlitz.
»Du bist wirklich das letzte Stück Dreck«, flüsterte sie. »Hast du vergessen, wie du mich bedrängt hast, dass ich es wegmachen lasse?«
»Ganz so war es nicht, Doris! Ich habe lediglich gesagt, für den Fall einer Schwangerschaft müsste man sich nach Möglichkeiten umsehen, diese abzubrechen. Du hattest außerdem Kontakt zu einem anderen Jungen; ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Dass du wirklich schwanger warst, habe ich nie erfahren, geschweige denn davon, dass ich der Vater des Kindes bin.«
Ihr Gesicht rötete sich vor Zorn. »Wann hätte ich es dir denn erzählen sollen?«, rief sie laut. »Bevor ich das konnte, hast du dich ja bereits aus dem Staub gemacht und mich sitzen lassen! Ich war ganz auf mich allein gestellt, furchtbar allein. Natürlich bist du der Vater! Für wie dämlich hältst du mich! Zum Zeitpunkt der Zeugung gab es für mich nur dich.«
»Ich habe das etwas anders in Erinnerung, Doris.«
»Auf deine Erinnerung war noch nie Verlass!«, fauchte sie mich an. »Du erinnerst dich nur, woran du dich erinnern willst. Immer wieder habe ich mich um dich bemüht – bis zum heutigen Tag. Und was muss ich erleben? Gleichgültigkeit, Ignoranz! Du verdienst es wirklich nicht, dass man dir hilft. Verdammt! Geh doch zum Teufel, du Schwachkopf, du Narr!«
»Reg dich nicht so auf, Doris«, erwiderte ich, bemüht, der eigenen Erregung Herr zu werden. »Es bleibt eine Tatsache, dass ich bis zum heutigen Tage von diesem Kind nichts wusste. Nie hast du es auch nur mit einem Wort erwähnt! Nie!«
Sie lachte gequält. »In der Zeit, in der ich dich brauchte, als ich die schweren Entscheidungen treffen musste, da warst du nicht für mich da. Ich habe dich verzweifelt gesucht. Was sollte ich dir denn erzählen, als alles längst vorüber war. Da brauchte ich dich nicht mehr!«
Was sie sagte, war nicht falsch. Tatsächlich hatte ich zu dieser Zeit um Doris einen weiten Bogen gemacht. Sowie der Krieg ausbrach, war ich fast erleichtert
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