Spittelmarkt
über dem Hotel entsteht der neue Mensch, unter dem Hotel – in jenem furchtbaren Keller –, da wurde der alte, da wurde der, den man nicht mehr haben wollte, na, sagen wir mal: entsorgt. Eine Medaille, zwei Seiten, ganz einfach.«
»Du bist ja wahnsinnig!«, schrie ich sie an. »Was ist das für eine Welt, die du dir da erträumst? Eine Welt, in der alle Menschen wie Irene und ihr Bruder sind? Irgendwann ist der Lack ab, Doris! Egal, wie schön und perfekt jemand ist – es geht vorbei. Wir sind nur Staub!«
»Du und andere – ihr könnt diese Welt überhaupt nicht verstehen!«, erwiderte sie scharf. »Unser Ziel sind nicht bestimmte physische Eigenschaften, die sowieso die Folge einer inneren Beschaffenheit sind. Unser Ziel sind unsterbliche Menschenwesen; die Rückkehr in ein goldenes Zeitalter.«
Ein Ausdruck unsäglicher Wut und Trauer legte sich über ihre Züge. »Irene und Roland – Geschwister, Liebende, Gefährten: Das hätte auch unser Schicksal sein können, hättest du dich dem uns bestimmten Geschick nicht widersetzt und unser gemeinsames Glück einfach zerstört!«
Langsam wurde ich böse. »Verdammter Unfug! Fauler Zauber, zu dem Behrend uns angestiftet hat! Die Befriedigung fleischlicher Lüste, wie er es wohl genannt hätte, ist für mich gesünder als dieses verquere sexualmagische Zeug! Ich habe miterlebt, wie es der kleinen Veronika mit Roland Olden erging. Ich kann nicht sagen, was sie seelisch erlebte, nur eines weiß ich ganz genau: nämlich dass sie es rein körperlich einfach genossen hat! Und das ist gut so, alles andere kann mir gestohlen bleiben!«
Doris lehnte sich zurück. »Falls ich bis jetzt den leisesten Zweifel daran hatte, dass ich mich in dir getäuscht habe, so hast du mich nun eines Besseren belehrt. Das große Werk ist nur den Auserwählten bestimmt. Du gehörst nicht zu ihnen! Leider habe ich Zeit meines Lebens auf den falschen Mann gesetzt. Aber von heute an ist das vorbei! Du bist nicht mein Gefährte, du bist nicht mein Geliebter – und von nun an bist du auch nicht mehr mein Bruder! Du bist einfach nur ein ganz normaler, primitiver, geiler Mann, der durch die Welt rennt, Frauen schändet und sich dafür auch noch stolz auf die Schulter klopft. Geh hin zu den deinen, du bist meiner Gesellschaft nicht wert. Verschwinde! Lass mich allein!«
Was war nur aus meiner Schwester geworden? Ich fühlte mich plötzlich ganz elend.
»Doris – bei allem, was geschehen ist –, wir standen unter einem bösen Einfluss. Natürlich trage ich Schuld, du hast recht! Wären uns die Eltern nicht gestorben, wären wir diesem Behrend niemals begegnet! Doris, bitte, lass uns da wieder beginnen, wo wir als Kinder aufgehört haben! Ja, ich habe dich geliebt; ja, ich habe mich an dir versündigt – und ich bereue es zutiefst. Lass uns endlich einander verzeihen und einen Neuanfang wagen. Noch ist es nicht zu spät!«
»Schluss! Schluss damit! Du redest wirres Zeug!«, fauchte sie mich an. »Verschwinde! Ich will dich nicht mehr sehen. Du bist mein Bruder nicht mehr!«
»Ach Doris, was geschehen ist, schaffst du nicht dadurch aus der Welt, dass du mir die Verwandtschaft aufkündigst!«
»Du wirst bald erleben, was das Ende unserer Verwandtschaft für dich bedeutet! Wenn wir keine Geschwister mehr sind, wird vieles für mich leichter. Falsche Rücksichtnahmen hören in diesem Fall nämlich auf.«
»Das hört sich an wie eine Drohung.«
Sie lachte. »Das ist keine Drohung, das ist ein Urteil!«
»Doris, versündige dich nicht an mir. Denk an die Eltern – denk an die Zeit, in der wir Kinder waren. Wenn du mich nicht mehr zum Bruder willst, so lass uns in Frieden scheiden – aber lass diesen Pharao und seine Schergen aus dem Spiel!«
Sie lachte auf. »Den Pharao? Ihn fürchtest du? Oh ja! Stimmt! Deiner Bitte, ihn herauszuhalten, könnte ich nämlich selbst dann nicht nachkommen, wenn ich es wollte. Er weiß längst Bescheid.«
»Es geht nicht darum, was er weiß; es geht darum, wie du dich zu ihm verhältst. Du hast es schließlich in der Hand. Er wird tun, was du von ihm verlangst.«
Sie antwortete nicht, und eine Zeit lang trat Schweigen ein. Falls noch der Hauch einer Chance bestand, dass Doris zur Besinnung kam, so wurde diese jedoch wenige Sekunden später durch ein Geräusch zunichte gemacht, das ich unerwartet hinter mir wahrnahm und das die Stille unbarmherzig zerschnitt.
»Der Pharao wird tun, was er selbst für richtig hält«, sagte hinter mir eine männliche
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