Spittelmarkt
richtig verstand.
»Gustav verlässt mich jeden Abend zwischen zehn und elf Uhr«, teilte sie mir mit. »Irgendwann landet er unweigerlich hier in der Bar. Zumeist komme ich etwa eine Stunde später nach. Morgen Abend, sobald er gegangen ist, werde ich an Ihre Tür klopfen.«
Ein jäher Trommelschlag beendete den Walzer, kaum dass ich ihr meine Zustimmung ins Ohr gehaucht hatte. Einen kurzen Moment lang herrschte völlige Stille in der Bar. Sowie der Geräuschpegel wieder einsetzte, sagte sie: »Bis morgen!«, trat einen Schritt zurück, dankte mir mit einem reizenden, unverbindlichen Lächeln für den Tanz und wandte sich von mir ab.
Wolfrath starrte mich an, als ich mich wieder auf den Barhocker an seiner Seite schwang. Sein Gesicht erschien mir unnatürlich bleich.
»Diese Frau gehört zu Herrn Helmholtz, nicht wahr?«, fragte er. »Wie ist ihr Name?«
Seine Augen wanderten hinüber zu dem Tisch, an dem Irene Varo inzwischen an der Seite von Helmholtz Platz genommen hatte, um den Männern beim Kartenspiel zuzusehen.
Ich beantwortete seine Frage.
»Irene Varo!«, murmelte er nachdenklich und blickte dabei weiter hinüber zu dem Tisch. Schließlich senkte er den Blick, als befürchtete er, man könnte ihn erkennen, und sagte so leise, dass ich es bei all den Geräuschen ringsum gerade noch verstand: »Ich weiß nicht, wer und was sie ist, Sie sollten sich auf alle Fälle vor ihr in Acht nehmen.«
Ich beschloss, mir meine Aussichten auf den morgigen Abend von ihm auf keinen Fall verderben zu lassen, ganz egal, was er mir alles erzählen würde.
»Warum sagen Sie das?«
»Wir sprachen eben über gefährliche Mythen«, erinnerte er mich. »Diese Frau gehört dazu.«
»Zu einem gefährlichen Mythos? Ach so, Sie meinen denjenigen einer wunderschönen Frau!«
»Sie irren sich möglicherweise«, entgegnete Wolfrath, »oder besser gesagt: Sie erkennen in der Schönheit nur den positiven Wert. Doch die Schönheit kann nicht nur für den Himmel, sondern auch für die Hölle stehen; sie hat gleichermaßen lichte und finstere Aspekte.«
»Ich bin sicher, dass ich es hier mit dem lichten Aspekt zu tun habe!«
Der Professor sagte nichts, sondern nippte nur einige Male an seinem Bier; dann rief er den Kellner, bat um die Rechnung und stand auf.
»Sie wollen schon gehen?«
»Ich muss darüber nachdenken, welche Rolle diese Frau hier auf dem Schiff spielt«, erklärte er. »Leben Sie einstweilen wohl! Wir sehen uns morgen!« Er bezahlte die Rechnung und wandte sich zum Gehen.
»Warten Sie!«, sagte ich und griff nach meinem Glas, um es auszutrinken. »Ich begleite Sie an Deck.«
Doch der Professor war bereits auf den Ausgang zugeeilt. Sowie ich ihm eine Minute später auf das Deck hinausgefolgt war, konnte ich ihn nicht mehr sehen.
Ich trat an die Reling und starrte in die Nacht. Ein paar Sterne blinkten oben am Firmament, während der Mond hinter einer Wolkenmasse verborgen war. Das Meer leuchtete beinahe schwarz, gefährlich, dennoch verführerisch und grenzenlos.
5
Trotz der erfreulichen Aussichten für den kommenden Abend war mir am nächsten Morgen die heitere Urlaubsstimmung der vergangenen Tage abhanden gekommen. Ich hatte keine Ahnung, woher die trübe Stimmung rührte, wahrscheinlich hatte ich einfach nur schlecht geträumt.
Das Wetter hatte gewechselt. Die Sonne war verschwunden, der Himmel hatte sich bedeckt und das Meer schien unter der noch gleichmäßigen Oberfläche unruhig geworden zu sein.
Weder die schöne Artistin noch der kleine Professor Wolfrath begegneten mir bei meinen Wanderungen über die Decks; einzig Frau von Tryska, die mir bei den Mahlzeiten auch am vorletzten Tag der Reise nicht von der Seite wich, leistete mir unter dem trüben Himmel Gesellschaft und heiterte durch belanglose Späße meine Stimmung ein wenig auf.
Beim Abendessen sagte sie zu mir: »Wie schade, dass wir morgen schon am Ziel angelangt sind! Die Überfahrt ist doch das Beste an einer solchen Reise. Die Schiffe werden heutzutage immer schneller, das gefällt mir nicht! Trotzdem ist dies die bisher angenehmste meiner Atlantiküberquerungen. Dafür mache ich auch Sie verantwortlich.«
»Es freut mich, dass ich zum Gelingen Ihrer Reise beitragen konnte«, erwiderte ich höflich, »auch Sie waren mir eine nette Gesellschafterin.«
Sie lächelte süffisant. »Darf ich Sie einmal in Ihrer Berliner Kanzlei besuchen, wenn ich das nächste Mal in der Hauptstadt bin?«
»Kommen Sie nur!«, erwiderte ich. »Ich freue mich
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