Spittelmarkt
Stunde nicht mehr auf mich. Andererseits hatte ich ihn eben in der Bar nicht gesehen. Vielleicht war er Irene, auf die er ja, aus welchen Gründen auch immer, ein Augenmerk hatte, begegnet! Kurz entschlossen klopfte ich heftig gegen seine Tür.
Zuerst geschah nichts, aber als der Dampfer eine leicht schlingernde Bewegung machte, bemerkte ich, dass die Tür in der Rahmung klapperte und offenbar nicht richtig ins Schloss gezogen worden war. »Wolfrath? Sind Sie da?«, rief ich und drückte dagegen. Die Tür leistete keinen Widerstand mehr.
Ich sah ein leeres Bett, daneben brannte ein Licht. Eine neue rumpelnde Bewegung lief durch den Schiffskörper, die mich etwas aus dem Gleichgewicht brachte, und ich machte einen Schritt nach vorn, um es wiederzufinden, dann stand ich aufrecht und blickte mich um.
Die Tür zum Baderaum war aufgeschwungen. Ein gespenstisch stiller Lichtschein drang aus dem Raum herüber und warf einen eigenartigen, leicht schwingenden Schatten über das Bett. Da war ein leises Geräusch zu vernehmen, einmal und anschließend noch einmal, doch es war nicht mehr als eine Art Scharren.
Etwas zog mich weiter, eine Ahnung, ein seltsames Unbehagen, das sich mit der Erregung von Neugier mischte – und wie zu einer Salzsäule erstarrt stand ich da und blickte durch die offene Tür geradewegs in Wolfraths Gesicht.
Es war graugrün, glasig blickende Augen traten aus den Höhlen hervor, die Zunge war zwischen die Lippen gepresst. Die Unterschenkel seiner Beine waren über dem Fußboden abgeknickt – die Schuhe, die bei einer stärkeren Bewegung des Schiffes über den Boden schabten, hatten das scharrende Geräusch gemacht. Neben ihm lag ein umgestürzter Schemel. Sein kleiner, hagerer und sanft schaukelnder Körper hing mit dem Hals in einer von der Decke herabhängenden Schlinge.
Das Gesicht machte einen leidenden, lebendigen Eindruck; doch es war kein bisschen Leben mehr in dem kleinen Professor, ein schrecklicher Tod hatte seinem Dasein ein Ende gesetzt.
Etwas in mir krampfte sich zusammen und ich schaffte es gerade noch bis zum Klo, wo ich mich erbrach, während die Beine von Wolfraths Leiche mir in die Seite stießen.
Langsam kam ich wieder hoch. Mein Gesicht im Spiegel war genauso weiß und grünlich wie die Galle, die ich ausgespien hatte. Ich säuberte das Klo, trat zu der Kabinentür und schloss sie von innen. Dann sah ich betroffen zurück zu dem kleinen Professor, dem Toten.
Und wenn ich eine Stunde früher gekommen wäre, ging es mir durch den Kopf – zu der von Wolfrath gewünschten Zeit? Ob der Professor da noch am Leben gewesen war? Hätte ich durch mein rechtzeitiges Erscheinen seinen Tod verhindert? War in der Einladung an mich, die er vor wenigen Stunden ausgesprochen hatte, ein letzter verzweifelter Versuch zu erblicken, um auf sich aufmerksam zu machen und so dem Schicksal die Gelegenheit zu geben, das Verhängnis, das sich bereits in ihm angekündigt hatte, noch zu verhindern?
Irgendjemand sollte ihn losschneiden, dachte ich mir. Doch mein nächster Gedanke galt dem Kabinensteward. Ich wandte mich schon zur Tür, um nach ihm zu suchen, da ließ ein plötzlicher Impuls mich wieder zögern, ein kaum bewusster Gedanke oder die vage Vorstellung, es sei wohl besser, kein Aufsehen zu erregen, was mich innehalten ließ. Ergab es überhaupt einen Sinn, den Tod des Professors dem Schiffspersonal zu melden? Es konnte ohnehin niemand mehr etwas für den armen Mann tun, und morgen, nach der Ankunft in New York, würde das Kabinenpersonal ihn ja so oder so entdecken. Schließlich hätte auch ich selbst, wäre die Tür richtig verschlossen gewesen, den Toten nicht gefunden.
Ich blickte zur Tür.
Merkwürdig, dass Wolfrath sie nicht geschlossen hatte! Aber vielleicht hing das mit seinem unbewussten Wunsch zusammen, rechtzeitig gerettet zu werden; und wie sollte man auch von jemandem, der im Begriff stand, sich das Leben zu nehmen, erwarten, dass er zu verständigem und folgerichtigem Verhalten in der Lage war? Ich atmete tief durch, öffnete leise die Tür und schlüpfte aus der Kabine, dann zog ich die Tür wieder leise hinter mir ins Schloss.
Kaum hatte ich den Aufgang zum Deck erreicht, begannen meine Gedanken schon wieder, um die anmutige Artistin zu kreisen. Immer noch hatte ich den Wunsch, sie zu sehen. Selbst das schreckliche Schicksal des kleinen Professors hatte mich meine Obsession nicht vergessen lassen, und darin lag auch der Grund, weshalb ich mich nicht auf die Suche nach dem
Weitere Kostenlose Bücher