Spittelmarkt
eingefunden hatte, doch noch waren es wenige, die das grandiose Schauspiel, an dem die ›Bremen‹ langsam und majestätisch vorüberzog, betrachteten.
Vor mir im Westen lag die Skyline von New York im leuchtend roten Morgendunst. Früher als zu erwarten gewesen war, hatte das Schiff ihr Ziel erreicht.
Die Stadt war ganz nahe, und wie gebannt blickte ich auf die in den Himmel ragenden Wolkenkratzer. Überall funkelten Lichter, die sich aus Abertausenden von Fenstern und aus den blinkenden Reklametafeln speisten und die offenbar nie aufhörten zu strahlen. Die Gebäude erschienen mir wie ein üppiges Bühnenbild, an einem nahezu wolkenlosen Himmel aufgehängt, um den Betrachter in Hypnose zu versetzen.
Plötzlich war mir danach, das Schiff so schnell wie möglich zu verlassen. Irene Varo wollte ich nie mehr wiedersehen. Sie war eine Illusion gewesen, wie jede wunderschöne Frau vor allem und in erster Linie nur ein Traum ist, ein magisches Gebilde, vom eigenen Geist geschaffen, das irgendwann zerplatzte oder zerrann. Wenn ich erst in New York war, würde ich sie schnell vergessen haben, redete ich mir ein – genauso wie den Professor.
Vor dem eindrucksvollen Panorama der riesigen Stadt kehrte ein Stück Zuversicht zurück und ich beschloss, unverzüglich meinen Koffer zu holen.
Nicht lange danach ging ich als einer der ersten Passagiere von Bord.
6
Das Plaza lag hinter der Queensboro Bridge mitten im lichterfunkelnden Zentrum von Manhattan und wirkte von außen wie ein riesiges französisches Schloss. Auch im Innern herrschte der Luxus. Prunkvolle Kronleuchter, teure Teppiche, und an den mächtigen Pfeilern der großen Halle hingen geheimnisvolle Skulpturen. Marmorne Treppenhäuser führten durch das vielstöckige Labyrinth mit seinen endlosen Zimmerfluchten und Suiten nach oben und über einige der zahlreichen Fahrstuhlschächte gelangte man direkt bis in die teureren Gemächer hinein.
Kurz nach Einbruch der Dämmerung bestieg ich das Dach des Plaza, von wo aus man einen herrlichen Rundblick auf das Stadtmeer hatte. Gigantisch und kolossal lag es vor mir, ruhig und doch unkontrollierbar, so als ließen mächtige unterirdische Energien die Bauten quasi von selbst in die Höhe schießen. Die mächtigen Wolkenkratzer, vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar, besaßen etwas berauschend Futuristisches. Wie das Versprechen von etwas noch nie da Gewesenem ragten sie selbstbewusst in die Lüfte. Und dennoch musste ich bei ihrem Anblick auch an etwas Uraltes, zauberhaft Verwunschenes denken.
Die Dämmerung kam rasch und ließ die große Stadt wie am Morgen vor meinen Augen funkeln; dahinter ging die Sonne unter mit dem rötlichen Dunst des schwindenden Tages, der noch eine Weile hinten über dem Hudson River tanzte. Dann war die Nacht da – und vor mir lag ein Panorama von solcher Schönheit und Rätselhaftigkeit, dass mich plötzlich eine glühende Sehnsucht erfasste. Wonach, das hätte ich nicht sagen können.
Bei meiner Ankunft im Hotel hatte man mir eine schriftliche Nachricht von Felix Warburg übergeben, einem deutschstämmigen Rechtsanwalt, der die Interessen von Florence Arnheim vertrat. Er hatte mich für den Nachmittag des auf meine Ankunft folgenden Tages in sein Anwesen eingeladen, das auf dem Long Island Sound lag. Ich war froh, dass wieder eine Arbeit, eine Aufgabe auf mich wartete, etwas Verlässliches und Vertrautes, auf das ich mich verstand.
Zurück in meinem Zimmer überkam mich große Müdigkeit. Ich warf mich auf das breite Bett mit dem weiß gepolsterten Kopfteil und den weißen flauschigen Kissen. Die Lichter im Raum waren alle verdeckt und strahlten aus Kehlungen auf die Wände und die Decke. Ich nahm den Old Surehand zur Hand, schaffte nur eine Seite, bis das Buch meinen Händen entglitt.
Mit einem Schalter neben dem Bett löschte ich die Lampen, und binnen einer Minute hatte ich New York weit hinter mir gelassen. Nun schritt ich durch einen dichten Wald, irgendwo im Wilden Westen. Ein Käuzchen schrie, woraufhin mich jäh das Gefühl von Angst und Verlassenheit überkam. Auf einmal erschien ein Indianer, der am Rande eines Waldes stand. Auf seinem Kopf trug er einen opulenten Federschmuck. Ein anderer Indianer in einem perlenbestickten Wildledergewand pirschte sich langsam an ihn heran, in der Hand einen Bogen, den er anlegte, um einen Pfeil auf ihn abzuschießen. Der erste Indianer nahm eine herausfordernde Haltung an, bot seine Brust dar, sein Bruder, von diesem Anblick gebannt, ließ
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