Spittelmarkt
schlüpfte in ihre Schuhe und nahm den Mantel unter den Arm. Dann warf sie einen schnellen Blick in die Runde und sagte: »In diesem Irrenhaus bleibe ich keinen Augenblick länger!« Und ohne eine weiteres Wort und ohne dass Shannon sie daran hinderte, schritt sie auf die Tür zu, drehte den Schlüssel herum und ging hinaus. Hinter ihr fiel die Tür mit einem knappen Geräusch in das Schloss.
Endlich entdeckte ich mein Hemd und zog mich vollständig an.
»Wahrscheinlich habe ich einen großen Fehler begangen«, hörte ich Shannon sagen. Es war nicht klar, ob er es bereute, dass er sie hatte laufen lassen, oder ob es ihm leidtat, in dieser rücksichtlosen und grausamen Weise mit ihr umgegangen zu sein.
»Sie hatten kein Recht, ihr so etwas anzutun, Mr. Shannon! Wollten Sie diese Frau wirklich umbringen?«
»Wenn sie Florence getötet hat, hat sie nichts anderes verdient«, tat Shannon kund. »Ich halte Ihre Freundin für schuldig, allerdings bin ich kein Mörder und will sie nicht richten, solange ihre Schuld nicht zweifelsfrei feststeht!« Er kratzte sich an der Schläfe. »Vermutlich hätte ich es ohnehin nicht zu Ende gebracht, sondern sie nur ein bisschen zappeln lassen – und sie erneut befragt. Es ging mir vor allem darum, die Wahrheit zu erfahren. Nein, so schnell wäre diese Katze nicht gestorben.«
Ich musste mich hinsetzen. Fast blitzartig war mir einiges klar geworden. Und die Zweifel, die Shannon inzwischen an der Schuld von Irene empfinden mochte, standen in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu meiner eigenen Erkenntnis. Allzu deutlich stand mir vor Augen, was ich vor ein paar Stunden in dem unheimlichen Apartmenthaus gesehen hatte. Die Existenz dieses unbekannten Liebhabers, um die ich im Gegensatz zu Shannon wusste, war nicht dazu angetan, den Verdacht gegen Irene, was auch immer daran war, zu entkräften. Aber natürlich hütete ich mich, Shannon nur einen Teil dessen, was ich wusste, zu offenbaren.
»Kommen Sie!«, sagte Shannon. »Sie müssen mich begleiten. Meine Gäste habe ich nach Hause geschickt. Wir gehen in Florence’ Wohnung!«
Die schwarze Limousine, die Irene und mich in der Nacht zuvor ins Hotel gebracht hatte, wartete mit Fahrer direkt an der Auffahrt vor dem Plaza. Die Luft in der Fifth Avenue war noch mild wie in einer Sommernacht und in den Straßen, durch die wir fuhren, herrschte reges Leben; zwischen Tag und Nacht schien in New York kein wesentlicher Unterschied zu bestehen.
Das alte deutsche Schloss mit dem unheimlichen Treppenhaus, vor dem der Wagen wieder hielt, wirkte im Morgengrauen düsterer als ein paar Stunden zuvor. Der Lift brachte uns hinauf und ich erkannte die Wohnung wieder, in der ich früher in der Nacht schon gewesen war. Wenig später stand ich in dem Zimmer, in dem vor ein paar Stunden die ergreifend schöne Liebesszene zwischen Florence, Irene und deren unbekanntem Partner stattgefunden hatte.
Auf dem Bett, auf dem sich zuvor die drei Akteure mit ihren begnadeten Körpern bewegt hatten, befand sich jetzt nur noch ein einziger nackter Körper, er war von einer Decke so weitgehend verhüllt, dass nur mehr das bleiche Gesicht und die weißen Schultern zu sehen waren; erschöpfte Züge, geschlossene Lider – es gab keinen Zweifel, Florence Arnheim lebte nicht mehr.
Lange Zeit starrte ich auf das eigenartig entspannte, weiterhin schöne Gesicht, ohne irgendwelche Worte zu finden.
»Ich hätte nicht geglaubt, dass mir so etwas passieren könnte –«, bemerkte Shannon zerknirscht, »ich empfinde Schuld, große Pein. Mit dem simpelsten Trick der Welt hat man mich außer Gefecht gesetzt! Nein, sagen Sie nicht wieder, dass es ein Selbstmord war. Sehen Sie die Würgemale dort am Hals? Erst jetzt, nachdem ich weiß, dass sie mit dieser Frau intim war, wird mir klar, wie es passiert sein muss. Zuerst hat mich ihre Erklärung unsicher gemacht, wahrscheinlich, weil sie mein Bild von dem, was geschah, durcheinander brachte; dabei ist der Sex das Detail, das mir noch fehlte. Sie hat ihr das Gift gegeben, entweder bevor oder während sie miteinander schliefen. Ein befreundeter Arzt hat sie untersucht. Wahrscheinlich starb sie am Gift, meinte er, aber sie wurde auch gewürgt. Die genaue Todesursache wird wohl nie feststehen, und obwohl wir ihren Tod offiziell als Selbstmord mittels Einnahme einer giftigen Substanz hinstellen werden – ich werde nie daran glauben, dass sie es freiwillig eingenommen hat. Für mich ist jetzt alles glasklar! Ihre attraktive
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