Spittelmarkt
Kreise«, verkündete Arnheim im Brustton der Überzeugung. »Die Grußworte dieses Mannes bestätigen und bekräftigen unsere Auffassung, dass wir auf der Schwelle zu einem neuen Zeitalter in der Geschichte der Menschheit stehen. Der neue Mensch – er wird geboren werden!«
»Man darf gespannt sein!«, sagte ich und nippte an meinem Kognak. »Was befand sich denn in dem Umschlag, den ich Florence in Ihrem Auftrag ausgehändigt habe?«
»Oh, nichts von Bedeutung«, erwiderte Arnheim, »ein paar persönliche Zeilen, verbunden mit der Bitte, sich einer einvernehmlichen Regelung in unserem beidseitigen Interesse nicht zu widersetzten – so in diesem Sinne.«
Genauso hatte ich es mir gedacht. Der Brief war wohl eine Art Türöffner gewesen, mit dem Arnheim hatte sicherstellen wollen, dass ich persönlich mit Florence in Verbindung trat und nicht nur über Dritte wie ihren Anwalt mit ihr kommunizierte.
»Mir war es wichtig, dass Sie dort drüben nicht mit leeren Händen erschienen«, lächelte Arnheim unverfroren. »Schließlich gehört es sich, dass man etwas mitbringt.«
»Florence war nicht sehr beeindruckt. Sie hat wohl mehr erwartet.«
Er schaute nachdenklich vor sich hin, sagte nichts, und sowie ich den Blick zur Seite wandte, bemerkte ich das schwach erleuchtete Porträt eines alten Mannes an der Wand auf der anderen Seite des Raums. Im ersten Augenblick war der Mann mir ein Fremder, der mit seinen gütig blickenden blauen Augen und dem weißen Haupthaar friedlich und weise aussah. Auf einmal war es, als wäre jemand zu mir getreten und hätte mir höhnisch zugeflüstert: ›Sieh, ich bin auch noch da! Hast du mich etwa vergessen?‹, und es ergriff mich ein Gefühl tiefen Erschreckens.
»Das ist doch Behrend!«, entfuhr es mir.
»Ganz recht«, hörte ich Arnheim sagen, »das ist Oskar Behrend, übrigens lange Zeit unser erster Pharao.«
Was mich am meisten erschreckte, war die unheimliche Erkenntnis, dass dieser Mann und die Leute, die er um sich gesammelt hatte, in den vielen Jahren, die vergangen waren, seitdem ich dieses Gesicht zum letztes Mal gesehen hatte, nicht weniger aktiv gewesen waren als zu der Zeit, da ich ihn gekannt hatte.
»Sehen Sie«, klärte mich Arnheim auf, »der alte Herr Behrend, der im vergangenen Jahr verstarb, hat vor Jahrzehnten richtig vorhergesagt, wie es heute um unser Land stehen würde. Ich bin überzeugt, dass er auch recht hat, was die kommenden Jahrzehnte angeht.«
Gott sei Dank, dass er tot ist, dachte ich nur, verkniff mir aber jeden Kommentar.
»Da wir schon über Behrend sprechen«, sagte Arnheim, »will ich Ihnen sagen, dass ich Sie nicht nur hergebeten habe, um mit Ihnen über Ihre Reise nach New York zu plaudern, sondern auch aus einem anderen Grund: Ich weiß von Ihrer Schwester, dass Behrend früher einmal Ihr Lehrer gewesen ist, demzufolge wissen Sie über seine Weltanschauung gut Bescheid.«
»Das meiste von dem, was er uns damals erzählte, habe ich vergessen. In den letzten 20 Jahren habe ich überhaupt nichts mehr von ihm gehört. Ich habe keine Ahnung, was die Weltanschauung dieses Herrn angeht.«
Arnheim drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus. »Nun, Herr Goltz, Ihre Erinnerung an Oskar Behrend wird nicht so schwach ausgeprägt sein, dass Sie mir die Frage, die ich Ihnen stellen wollte, nicht beantworten können. Ich will nicht länger wie die Katze um den heißen Brei herumschleichen, sondern Sie ganz direkt fragen: Wie stehen Sie zu Behrend – und damit zu uns und unserer Gemeinschaft? Stehen Sie auf unserer Seite oder sind Sie gegen uns?«
Ich blickte auf die Nasenwurzel zwischen Arnheims Augen, um dem direkten Blick des Mannes, der mich lächelnd und dennoch eiskalt fixierte, standhalten zu können. Warum, weiß ich nicht, aber vor meinem inneren Auge erschien plötzlich das Rattengesicht des Drahtigen unter der Brücke am Landwehrkanal; vielleicht lag es am Tonfall, den Arnheim angeschlagen hatte.
»Ich stehe auf überhaupt keiner Seite.«
Arnheims Lächeln wurde breiter. »Dieser bequeme Standpunkt wird sich nicht mehr lange aufrechterhalten lassen, Herr Goltz. Sie müssen Farbe bekennen, müssen sich entscheiden, wie Sie sich zu den Veränderungen stellen wollen, von denen unser Volk in zunehmendem Maße betroffen sein wird! Und zwar sehr bald! Am besten wäre es natürlich, Sie hätten längst eine Antwort gefunden. Oder gibt es bereits eine, Sie möchten sie aber nicht so gern zugeben? Ich will Sie ja nicht drängen, heute
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