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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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Identitätskrise«, erwiderte Rudolf. »Auch wir können uns der nationalen Kraftanstrengung, die eine neue Politik, einen neuen Staat hervorbringen soll, nicht verweigern. Es tut mehr als not, sich für sein Land einzusetzen. Und wir haben Grundlegendes beizusteuern!«
    »Beim Nachdenken über Deutschlands Probleme ist mir unlängst Goethe eingefallen, der anlässlich der Befreiungskriege die Ansicht vertrat, dass der Nationalismus in den Händen der Deutschen keine günstige Entwicklung nehmen könne. Schon aufgrund ihrer territorialen Lage, auf allen Seiten von Nachbarn umgeben, meinte er, dass die Deutschen ihr Streben nach Größe nicht auf dem politischen Felde, sondern in der geistigen Welt befriedigen müssten.«
    »Mir ist Goethes Ideal der deutschen Kulturnation bekannt«, sagte Rudolf. »Ich halte es nur für falsch. Goethe in Ehren. Zugegeben, es wäre eine großartige Sache, wenn die Deutschen ihrem Drang nach Größe und Ruhm in der geistigen Welt Raum verschaffen könnten. Aber es klappt nicht, oder sagen wir so, es wird nicht genügen! Deutschland kann keine große Kulturnation sein, wenn es nicht über territoriale und wirtschaftliche Macht verfügt. Auf die Größe seines Geistes kann sich ein Volk nicht beschränken. Wenn es das versucht, muss es scheitern, weil diejenigen Nationen, die über territoriale Macht verfügen, es auch kulturell überflügeln werden.«
    »Ich befürchte nur, dass in Deutschland der Nationalismus in der Politik mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf einen Krieg hinausläuft.«
    Rudolf zuckte die Schultern. »Wenn man Kriege vermeiden will, ist das geeignete Mittel dazu die richtige Politik, nicht die geistig-kulturelle Beflissenheit eines Volks, die ja nicht verhindern kann, dass andere es mit Kriegen überziehen. Das beste Beispiel ist der Krieg, der hinter uns liegt: Wir haben diesen Krieg nicht begonnen, dennoch tut die Welt so, als hätte allein Deutschland diesen Konflikt geschürt – als ob Österreich und Russland, Großbritannien und Frankreich überhaupt keine Schuld daran träfe! Niemand respektiert unsere reichen geistigen Leistungen, man trampelt auf uns herum und behandelt uns wie Verbrecher, und das kann man nur tun, weil wir uns nicht wehren können.«
    »Wir hätten uns eben nicht so forsch in diesen Krieg hineinstürzen sollen, wie wir es dann taten! Vergiss nicht, dass es Deutschland war, das die Neutralität Belgiens massiv verletzt hat.«
    »Unser Land hat mit dem Verlust seiner Macht, seiner Dynastie, für die ›Vergewaltigung Belgiens‹ bezahlt«, entgegnete Rudolf scharf, »und die Verluste, die wir erlitten haben, liegen weit über denen der Alliierten! Ursächlich für den Krieg waren doch die österreichisch-russischen Spannungen! Es war Russland, das Deutschland den Krieg erklärt hat, nicht umgekehrt! In Anbetracht dieser Tatsachen ist es eine schreiende Ungerechtigkeit, dass Deutschland die Schmach ganz allein tragen soll!«
    »Ich gebe ja zu, dass man das unterschiedlich bewerten kann, nur rechtfertigt das noch lange nicht alles.«
    »Ja«, ergriff Doris das Wort, »es kommt auf die richtigen Mittel an – und auf den richtigen Mann, der die richtigen Mittel zu benutzen versteht.«
    »Der rechte Mann zur rechten Zeit ist immer gut«, erwiderte ich, »aber was für ein Mann sollte das sein?«
    »Möchtest du einen Namen hören?«
    »Den kann ich mir schon denken. Interessanter wäre es zu erfahren, wie denn dieser richtige Mann beschaffen sein muss und worin wohl seine Größe bestehen soll.«
    »Es müsste so jemand wie in dem Gedicht von George sein«, sagte Doris triumphierend.
    »Stefan George?«
    »Ja!«
    »Und an welches Gedicht hast du da gedacht?«
    »Das vom ›Widerchristen‹! Ich habe es andernorts einmal vorgetragen. Mal sehn, ob ich es spontan zusammenbekomme. Möchtest du es hören?«
    »Gewiss.«
    Sie konzentrierte sich für ein paar Momente und begann zu rezitieren:

    »›Dort kommt er vom berge.. dort steht er im hain!
    Wir sahen es selber.. er wandelt in wein
    Das wasser und spricht mit den toten.

    O könntet ihr hören mein lachen bei nacht:
    Nun schlug meine stunde.. nun füllt sich das garn..
    Nun strömen die fische zum hamen.

    Die weisen die toten – toll wälzt sich das volk..
    Entwurzelt die bäume.. zerklittert das korn..
    Macht bahn für den zug des Erstandnen.

    Kein werk ist des himmels das ich euch nicht tu.
    Ein haarbreit nur fehlt – und ihr merkt nicht den trug
    Mit euren geschlagenen sinnen.

    Ich

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