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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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zu bleiben – ist selbstverständlich die Erweiterung unseres Bewusstseins, die Übung der Innenschau und die Erweckung verborgener Kräfte.«
    »Gehören etwa auch sexuelle Rituale zu dieser praktischen Magie?«
    Er schien zu zögern. »Sie sind nicht ausgeschlossen und genießen bei uns sogar einen höheren Grad der Anerkennung als das in anderen Gesellschaften der Fall ist, die ja zumeist reine Männerbünde sind. Aber nur wenige Menschen sind dafür geeignet, einen sexualmagischen Einweihungsweg zu gehen.«
    Die Tür ging auf und Doris kehrte mit einer Weinflasche aus dem Keller zurück.
    »Wollen wir hoffen, dass es funktioniert und bessere Menschen bei euren Übungen herauskommen«, sagte ich.
    »Die Hoffnung wird dich nicht trügen«, erwiderte Rudolf. »Voraussetzung ist natürlich, dass man sich ernsthaft bemüht.«
    »Wenn es dir ernst ist, Eugen, halte dich bereit!«, wies Doris mich an, während sie sich daran machte, die Flasche zu entkorken. »Und mach dir keine Sorgen! Es ist kein Nachteil, mit unserer Bewegung verbunden zu sein. Es gibt Pflichten für jedes Mitglied, allerdings winkt auch ein hoher Gewinn; etwas, was du von keiner der Parteien, die sich demokratisch nennen, bekommen kannst.«
    »Ich werde mal darüber nachdenken. Wollt ihr mir nicht sagen, wer euer Pharao ist? Der Name klingt ja geheimnisvoll.«
    »Er hat nicht umsonst einen geheimen Namen«, erwiderte Doris. »Nicht alle kennen ihn – nur die höheren Grade. Es wird nicht darüber gesprochen, wer der Vorsitzende unserer Gesellschaft ist – und auch nicht, welchem Grad jemand angehört; obwohl man Letzteres natürlich so ungefähr weiß, wenn man länger dabei ist. Wer zu uns kommt, muss diese Bedingungen akzeptieren. Du wirst deshalb von mir keine Antwort bekommen können, und ich lasse offen, ob ich überhaupt weiß, wer der Pharao ist.«
    Rudolf lächelte mir aufmunternd zu. »Tut mir leid, mein Lieber, aber auch von mir erfährst du nichts. Die Einhaltung des Schweigegebots ist die erste Pflicht des Apologeten. Komm zu uns – dann wirst du bald sehen!«
    Endlich wechselten wir das Thema und plauderten, während wir die Flasche Wein austranken, über belanglose Dinge. Als ich irgendwann ging, begleitete Doris mich zur Tür und trat dort schüchtern auf mich zu, fasste mich an den Schultern und umarmte mich auf eine dezente und vorsichtige Art. Ich konnte nicht vermeiden zu bemerken, dass noch immer eine starke, körperliche Anziehungskraft von ihr ausging, die auch auf mich, ihren Bruder, nicht ganz ohne Wirkung war.

16
    Der alte Pfarrer Grüttner lebte noch. »Drüben im Stiftshaus können Sie ihn finden!«, sagte die schwarzgekleidete Nonne, die mich im Eingangsbereich des Vinzenz-von-Paul-Hauses empfing.
    Sie schob den Ärmel ihrer Kutte zurück und blickte auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Um diese Zeit macht er normalerweise seinen Spaziergang. Wenn Sie ein ehemaliger Schüler sind, kennen Sie sich ja aus! Gehen Sie in den Garten hinter dem Stiftshaus. Sicherlich begegnen Sie ihm dort.«
    Versunken in alte Erinnerungen stapfte ich durch den frisch gefallenen Dezemberschnee. Der Garten, der sowohl an das Stiftshaus als auch das Haus des Heiligen Vinzenz angrenzte, lag an diesem Vormittag verlassen da, die Internatskinder waren in der Schule. Ich bog um eine Ecke und erblickte von Weitem einen älteren Herrn, der mit einem Spazierstock bewaffnet seine einsamen Runden zog.
    Ich wählte den Weg, auf dem ich dem Pfarrer begegnen musste. Auf seiner Höhe angelangt, sah er mit Interesse zu mir her und grüßte mich freundlich.
    »Herr Pfarrer, schön, Sie nach 20 Jahren wieder einmal zu sehen. Ich bin ein alter Schüler. Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern.«
    »Oh, wer weiß«, gab der Pfarrer schmunzelnd zurück, »mein Langzeitgedächtnis scheint von Jahr zu Jahr besser zu werden; wie ist denn Ihr Name?«
    Nachdem ich ihm meinen Namen und auch meinen Beruf genannt hatte, sagte der Geistliche: »Oh ja! Ganz dunkel erinnere ich mich! Hatten Sie nicht eine Schwester?«
    »Ihr Gedächtnis, Herr Pfarrer, ist wirklich erstaunlich.«
    »Danke! Dieses Kompliment ist mir das liebste. Kommen Sie und begleiten Sie mich ein wenig auf meinem Weg!«
    Wir setzten uns in Bewegung und er fragte: »Wie ist es Ihnen ergangen? Ich freue mich, wenn jemand unserer Ehemaligen zu Besuch kommt und ich erfahre, dass etwas Anständiges aus ihm geworden ist.«
    »Kommt das so selten vor?«
    »Für diejenigen, die ohne Eltern aufwachsen müssen,

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