Spittelmarkt
ist unsere Schule kein leichtes Los – Sie wissen das besser als ich. Aber lassen wir das! Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Schließlich sind wir einmal Ihre Familie gewesen!«
Ich fühlte mich auf einmal berührt. Dabei kam mir der Gedanke, dass damals vielleicht nicht alles ganz so schlimm gewesen war, wie es sich in meiner Erinnerung anfühlte.
»Meine Schwester Doris und ich hatten immerhin das Glück, dass wir während des ersten Lebensjahrzehnts die lieben Eltern noch hatten«, erinnerte ich mich, und erzählte ihm einige Dinge über meinen Werdegang. »Anderen erging es schlechter als uns«, fügte ich hinzu. »Ich mag mein Schicksal auch gar nicht beklagen, doch es gibt ein paar Dinge in meinem Leben, die ungeklärt geblieben sind. Ich bin hier, um etwas Licht in diese Zusammenhänge zu bringen.«
Der Pfarrer sah mich ruhig und aufmerksam an, was mir Mut machte.
»Ich habe in letzter Zeit wieder an jemanden denken müssen, der damals einer unserer Lehrer und zu meiner Zeit auch der Leiter des Internats gewesen ist«, sagte ich. »Sein Name war Oskar Behrend.«
Bei der Erwähnung dieses Namens hatte ich das Gefühl, dass ein leichter Ruck durch die Gestalt des alten Pfarrers ging, aber möglicherweise täuschte ich mich auch.
»Oskar Behrend«, murmelte der Pfarrer, nachdem wir ein paar Meter weitergegangen waren und den kahlen Schatten einer alten Eiche erreicht hatten, »war ein Mann von großen Talenten, allerdings hat er seine Gaben verschenkt.«
»Er hat seine Talente verschwendet, wollen Sie sagen?«
»Sie kennen gewiss die schöne Geschichte von den Talenten, die der Herr, der auf Reisen geht, seinen drei Knechten übergibt«, sagte er. »Es ist eine meiner liebsten Erzählungen aus dem Neuen Testament, und wenn ich an diese Geschichte denke, muss ich an Behrend denken. Er hatte so viele Talente wie der erste Knecht, verhielt sich dagegen wie der dritte, der sein Talent vergrub – oder nein, sogar noch schlimmer –, er hat seine Talente nicht nur vergraben, er hat sie für etwas Böses verwendet.«
»Das müssen Sie mir näher erklären, Herr Pfarrer! Was werfen Sie ihm vor?«
Der Geistliche schien eine Weile nachzusinnen. »Behrend war ein Mann von großen spirituellen Möglichkeiten. Aber anstatt sie dementsprechend zu nutzen, hat er sich zur Umwertung aller Werte bekannt und Entwicklungen Vorschub geleistet, die die natürliche Ordnung der Dinge auf den Kopf stellen müssen. Er hat völlig inakzeptable Wege eingeschlagen, um – wie soll ich sagen? – die verloren gegangene Verbindung des Menschen mit der Transzendenz wiederherzustellen. Diese Worte hätte er selbst wohl beschönigend gebraucht.«
Eine Zeit lang gingen wir schweigend nebeneinander her.
»Meine eigenen Erinnerungen an diesen Mann sind merkwürdig verschwommen«, erzählte ich, »es ist, als hätte ich ihn gekannt und doch nicht wirklich. Er scheint irgendeine Bedeutung für mein Leben gehabt zu haben; einzig vermag ich diese Bedeutung nicht recht zu erfassen.«
Wir umrundeten eine verschneite Hecke und der Pfarrer verlangsamte seinen Schritt.
»Möchten Sie mir von Ihren noch vorhandenen Erinnerungen erzählen?«, fragte er.
»Es fällt mir schwer, sie in Worte zu fassen.«
Ein weiteres Stück Weg verschwand hinter uns.
»Haben Sie mit Ihrer Schwester einmal über Ihre Erinnerungen an Oskar Behrend gesprochen?«, erkundigte sich der Pfarrer und sah mich nachdenklich an. »Ihre Schwester hat ja in jenen Tagen das Leben hier mit Ihnen geteilt.«
»Unser Verhältnis ist nicht mehr das, was es einmal war. Wir haben zwar Kontakt, aber richtig offen können wir nicht miteinander sprechen. Vielleicht fürchte ich, dass ihre Erinnerungen nicht weniger unangenehm und bedrückend als die meinen sind.«
»Sie sollten dennoch einmal das ernste Gespräch mit Ihrer Schwester suchen«, sagte Pfarrer Grüttner, »auch wenn es kein einfaches werden mag. Oskar Behrend hat auf manche der jungen Menschen in seiner Umgebung einen unheilvollen Einfluss ausgeübt.«
»Wie hat sich das denn geäußert?«
Wir wanderten schweigend ein Stück weiter auf unserem Weg, bis er erneut stehen blieb und den Blick auf mich richtete.
»Wie groß ist der Altersunterschied zwischen Ihrer Schwester und Ihnen?«, fragte er unvermittelt.
»Doris ist zwei Jahre jünger.«
Der Pfarrer nickte, als hätte bereits diese Antwort seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
»Es kommt in einem Waisenhaus ja nicht
Weitere Kostenlose Bücher