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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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so selten vor, dass Geschwisterkinder zusammen hier leben«, sagte er. »Es ist sogar ein häufiger Fall. Geschwisterpaare unterschiedlichen Geschlechts haben Behrend besonders interessiert, jedenfalls dann, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllten.«
    »Und diese Voraussetzungen waren?«
    »Nun«, führte Grüttner zögernd an, »sein Interesse war geweckt, wenn die Kinder deutschen Geblüts waren, kein großer Altersunterschied sie trennte und sie ein leidlich angenehmes Äußeres besaßen.«
    »Waren nicht alle Kinder, die hier waren, christlichen Glaubens und deutschen Geblüts? Ich kann mich nicht erinnern, dass es jüdische Kinder bei uns gegeben hätte.«
    »Da haben Sie zweifellos recht«, sagte der Pfarrer und sein Gesicht war ernst. »Behrend hatte einen Kreis junger Menschen um sich versammelt – ich nehme an, dass Sie sich daran erinnern, sofern Sie ebenfalls zu diesem Kreis gehört haben.«
    »Doris und ich haben zu diesem Kreis gehört; aber meine Erinnerungen sind merkwürdig verschwommen, oder – wie sagt man heute? – es ist mir, als hätte ich vieles von dem, was in diesem Kreis passierte, verdrängt.«
    Ich redete so, weil mir daran lag, die Antworten auf die Fragen, die mich quälten, aus dem Munde des Pfarrers zu erfahren – weniger deshalb, weil ich meinen eigenen Erinnerungen nicht traute, sondern mehr, weil ich wissen wollte, in welchem Licht der Pfarrer die damaligen Geschehnisse sah.
    »Viel zu lange missachtete ich mit freundschaftlicher Nachsicht jenes, von dem ich bald argwöhnte, dass es ihn umtrieb«, sagte der Pfarrer, »ich bin deshalb nicht ganz unschuldig an dem seelischen Schaden, den er einigen unserer jungen Menschen zugefügt hat. Behrend war von esoterischen Geheimlehren besessen, er war ein Okkultist, der auf subtile Weise versuchte, seine Überzeugungen unter den Schülern nicht nur zu verbreiten, sondern sie auch durch unmittelbare Erfahrungen zu verifizieren. Er hat wohl eine offene Tür gesehen und konnte nicht der Versuchung widerstehen, hindurchzugehen.«
    »Von solchen Leuten geht häufig ein unguter Einfluss aus«, stimmte ich ihm zu. »Aber seelischer Schaden? Ich bin bislang nicht auf den Gedanken gekommen, Behrend für meine seelischen Narben verantwortlich zu machen. Wobei: Vielleicht ist sein Schatten in meinem Leben größer, als ich dachte. Ja, diese offene Tür! Doch kann ich die Schuld für meine Verfehlungen nicht bei Behrend suchen. Es wurde ja niemand gezwungen.«
    »Gezwungen?«, hakte der Pfarrer leise nach. »Wozu wurden Sie nicht gezwungen?«
    Mir wurde unbehaglich zumute und ein leichter Schwindel fasste nach mir. Der Pfarrer war unversehens in die Rolle meines Beichtvaters geraten, das war schließlich auch sein Beruf und gewiss einer der Gründe, weshalb ich ihn aufgesucht hatte. Ich suchte für mich die Absolution.
    »Was ist geschehen?«, erkundigte sich Grüttner. »Ihre Erinnerungen sind bei mir in guten Händen. Wenn Sie es ausgesprochen haben, werden Sie sich besser fühlen.«
    Er hatte sich drei oder vier Schritte von mir entfernt und sah mich aufmerksam an, als hätte er aus dieser Entfernung ein klareres Bild.
    »Wir haben miteinander geschlafen, meine Schwester Doris und ich; nicht nur einmal; ich glaube, es passierte drei- oder viermal.«
    Ich fühlte mich wie ein Angeklagter vor dem Richter.
    Der Pfarrer Grüttner nickte nur. Er schien eine solche oder eine ähnliche Mitteilung von mir erwartet zu haben.
    »Es ist gut, dass Sie es gesagt haben«, betonte er. »Laden Sie keine Asche auf Ihr Haupt; ich selbst hätte nicht weniger Grund, es zu tun! Ihre Schwester und Sie sind einem Verführer zum Opfer gefallen!«
    »Behrend hatte nichts damit zu tun«, protestierte ich erneut, aber ich wusste nicht mehr, ob ich es ernst meinte.
    »Er hatte viel damit zu tun, das sei Ihnen versichert«, sagte der Pfarrer und erwiderte meinen Blick. »Er hat es Sie nur nicht merken lassen, weil er wusste, wie er vorzugehen hatte, damit so etwas passierte. Er war ein geschickter Manipulator. Die rechte Andeutung, das rechte Wort zur rechten Zeit, die Schaffung eines geeigneten Umfelds – oh ja, er war ein meisterhafter Verführer.«
    Ich wischte ein paar Schweißperlen von meiner Stirn. »Nun, wenn Sie es sagen, Herr Pfarrer, dann wird es wohl so gewesen sein.«
    Pfarrer Grüttner gab mir mit der Hand ein Zeichen, dass er seinen Spaziergang fortzusetzen wünschte. Mit behutsamen Schritten folgte ich ihm.
    »Behrend wollte das Inzesttabu für

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