Spittelmarkt
besonders wertvolle und rassisch geeignete Menschen aufgehoben wissen«, holte er aus. »Er hielt es für einen Anachronismus, für nicht mehr zeitgemäß, weil es seiner Ansicht nach der Geburt höher entwickelter Menschenwesen im Wege stand. Lange Zeit habe ich ihn nicht ernst genommen, und ich war entsetzt, sowie ich entdeckte, dass er begonnen hatte, seinen Ansichten Taten folgen zu lassen, indem er Geschwister, die ihm rassisch geeignet erschienen, zur Aufnahme sexueller Beziehungen animierte, das Ganze esoterisch und halbseiden religiös verbrämt.«
»Es ist nicht die Aufgabe des Menschen, sich selbst besser oder neu zu erschaffen«, fuhr der Pfarrer fort. »Äußere Kraft und Schönheit sind nicht alles – der Mensch hat die Aufgabe, sein inneres Potenzial zu entwickeln und sich dem göttlichen Geheimnis im Glauben anzuvertrauen. Die Ansicht, die Rassenvermischung sei der Sündenfall der Menschheit, ist ein groteskes Hirngespinst.«
Wir setzten unseren Weg fort.
»Wissen Sie etwas darüber, ob aus solchen Inzestbeziehungen Kinder hervorgegangen sind, Herr Pfarrer?«, sprach ich daraufhin einen Gedanken aus, der mir seit einiger Zeit schon im Kopf herumspukte.
»Ich habe damals dafür gesorgt, dass Behrend unsere Einrichtung verließ und kann nur ahnen, wie es danach weitergegangen ist«, antwortete Grüttner. »Leider liegt es in der Natur der Sache, dass es erfolgreiche Fälle gegeben haben mag, zumal Behrend nicht der Einzige war, der obskuren Rassetheorien anhing. Zurzeit gibt es noch mehr von diesen Leuten. Oft handelt es sich um Menschen, die wie Behrend mit dem christlichen Glauben ihrer Kindheit gebrochen haben und dadurch zu Suchenden – oder besser gesagt: zu Umherirrenden – wurden. Der Wahn der Selbsterlösung, der den Menschen zu Gott erklärt, ist dann die neue Antwort auf ihr unerfülltes religiöses Sehnen. Ich betrachte die Entwicklung in unserem Land mit großer Sorge. Wir müssen Obacht geben, dass es nicht in die Fänge von Dämonen gerät.«
Wir gelangten an ein altes Gemäuer, wo es nicht weiterging, und dort griff ich in meine Jackentasche und zog das darin befindliche Stück Papier heraus.
»Erinnern Sie sich noch an die Namen von Jugendlichen, die zu dieser Zeit zur Umgebung von Behrend gehörten?« So fragend reichte ich dem Pfarrer die Namensliste, die derjenigen aus Roland Oldens Wohnung entsprach. »Sie finden meinen Namen ebenso auf dieser Liste wie den meiner Schwester. Sagen Ihnen die anderen Namen etwas?«
Pfarrer Grüttner senkte die Augen und studierte das Papier aufmerksam.
»Ich kann mich zwar nicht mehr an alle Namen erinnern, einige erscheinen mir doch vertraut – jedenfalls diese beiden hier, Irene und Roland Olden.«
Wirklich überrascht war ich nicht, obwohl ich mich etwas betroffen fühlte, dass der Pfarrer ausgerechnet diese beiden bezeichnete, und ich mit meiner Annahme, der ehemalige Aufenthalt in diesem Hause könne all die Namen auf der Liste zusammengeführt haben, so mitten ins Schwarze getroffen hatte.
»Es waren zwei ganz ungewöhnlich schöne Menschenkinder«, erinnerte sich der Pfarrer, »und daher konnten sie Behrends Aufmerksamkeit natürlich nicht entgehen. Sie waren einst auch schon keine kleinen Kinder mehr, das Mädchen 14, der Junge 16, so ungefähr.«
»Wann waren die beiden hier?«
»Das muss während der Kriegsjahre gewesen sein. Ich weiß es, weil diese beiden der Anlass dazu waren, dass ich Behrend aufforderte, das Haus zu verlassen.«
»Was war denn geschehen?«
»Die Oldens haben ähnliche Erfahrungen machen müssen wie Sie und Ihre Schwester. Mehr muss ich dazu wohl nicht sagen!«
»Sie sind Schicksalsgenossen, deshalb interessiere ich mich für die beiden. Wissen Sie Weiteres über die Oldens? Wer waren die Eltern? Wie kamen die Geschwister hierher?«
Der Pfarrer überlegte. »Die Eltern lebten nicht mehr – da war nur dieser Vormund, ein etwas älterer Herr, den Namen habe ich vergessen, aber er war mit Behrend gut bekannt. Mir erzählte der Vormund, dass er der beste Freund des Vaters der Oldens gewesen sei, bei dem die Kinder bis zu seinem Tod gelebt hatten. Der Vater, auch ein älterer Mann, war bei der Geburt der Kinder wohl einiges über 50 gewesen und vorher angeblich viel in der Welt umhergereist. Er hatte sich in Dresden zur Ruhe gesetzt. Die Mutter der Kinder, obwohl weit jünger, war schon längere Zeit vor ihm gestorben.«
»Kann es sein, dass der Vormund die Kinder in dieses Internat brachte, gerade weil er
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