Spittelmarkt
wusste, dass sie in die Obhut von Oskar Behrend gelangen würden?«
»Behrend war sein Bezugspunkt, ja, das heißt allerdings nicht, dass der Vormund Behrends düstere Vorlieben gekannt und gutgeheißen haben muss.« Er blickte angestrengt vor sich hin. »Es war etwas eigenartig, dass der Vormund nicht lange nach dem Weggang von Behrend aus unserem Hause die Geschwister wieder zu sich genommen hat. Nun, das mag natürlich davon abhängig gewesen sein, dass er aufgrund der Vorkommnisse das Vertrauen zu unserem Haus verloren haben könnte – es wäre ihm nicht weiter zu verdenken gewesen.«
»Wissen Sie noch, wo der Vormund damals wohnte?«
»Ganz dunkel – hoffentlich verwechsele ich nichts – mir ist Friedrichstadt in Erinnerung, aber meine Erinnerung ist wirklich sehr vage. Ich kann mich täuschen. Es wird sich nach so langer Zeit leider nicht mehr feststellen lassen. Die Anschriften von Angehörigen werden nach dem Weggang nur für eine kurze Zeit von uns aufbewahrt.«
»Falls Sie doch noch etwas finden oder Ihre Erinnerung zurückkehren sollte, würden Sie es mir dann mitteilen? Eventuell könnte es mir helfen, den heutigen Aufenthalt der Geschwister zu ermitteln. Ich gebe Ihnen einmal meine Karte, Sie finden darauf meine Telefonnummer.«
Der Pfarrer nahm die Karte, studierte sie eine Weile und steckte sie ein. Ein paar Minuten später erreichten wir die kleine Gartenpforte, die zum Gebäude und zur Straße führte.
»Sprechen Sie mit Ihrer Schwester und suchen Sie die Aussöhnung mit ihr«, sagte der alte Mann zum Abschied. »Es könnte Ihnen beiden helfen. Wir werden uns wohl nicht mehr sehen – deshalb wünsche ich Ihnen schon jetzt ein gesegnetes Weihnachtsfest!«
17
Es war wenige Tage vor Heiligabend, genauer gesagt am Abend der Wintersonnenwende, da erblickte ich beim Erreichen meiner Wohnung ein großes, dunkles Mercedes-Cabriolet, das in Höhe des Hauseingangs am Bordsteinrand im Lichtkegel einer Straßenlaterne parkte.
Ein Mann in Chauffeur-Uniform stand neben der Fahrertür und rauchte eine Zigarette. Unwillkürlich straffte ich mich, gerade rechtzeitig, bevor der Mann seine Zigarette auf den Boden warf und mir mit zwei, drei gemächlichen Schritten entgegenkam.
»Herr Goltz – Sie sind doch Herr Goltz?«
Der Mann blieb ziemlich nahe vor mir stehen, und so warf ich ihm einen Blick zu, der eine Distanz schaffen sollte, zumal ich es nicht mochte, wenn man mich zur Feierabendzeit vor meinem Haus überrumpelte.
»Ich bin heute nicht mehr zu sprechen.«
»Wenn ich meinen Chef richtig verstanden habe, geht es um etwas Privates, eine Einladung. Bitte sprechen Sie selbst mit ihm; es dauert nur eine Minute.«
Ich warf einen Blick zum Wagen hinüber, konnte aber hinter den dunklen Scheiben niemanden erkennen.
»Mit wem soll ich denn sprechen?«
Statt einer Antwort reichte der Uniformierte mir eine Karte, auf der ich las: ›Theodor Hartmann, Rechtsanwalt‹.
Ein Kollege! Was wollte zu dieser Stunde ein Kollege von mir?
Trotz eines unbehaglichen Gefühls begleitete ich den Chauffeur zum Wagen. Der Mann öffnete die Tür zum Fond und lugte in das Innere. Der Insasse beugte sich vor, sein Gesicht im Schatten verborgen, und sowie er sprach, war seine Stimme zwar freundlich, klang allerdings wie geölt: »Setzen Sie sich ein wenig zu mir, Herr Goltz. Wir sind uns noch nicht begegnet. Ich bin ein Freund Ihrer Schwester und wollte Sie bitten, mich auf einen kleinen Empfang zu begleiten.«
Er bewegte sein Gesicht im Lichtschein der Laterne, und ich sah Augen, die über seiner Habichtsnase zu mir herüberblitzten. Ein finsterer Ernst, den ich nicht recht zu deuten vermochte, lag auf seinem Gesicht. Ich dachte mir sofort, dass der Mann nicht ungefährlich war und ich es besser vorerst nicht vermeiden sollte, mich möglichst gut mit ihm zu stellen.
»Ich will nicht unhöflich sein, aber ich bin ein wenig müde und nicht in der Stimmung, heute Abend außer Hauses zu sein«, sagte ich. »Gibt es keinen anderen Termin für die Einladung?«
»Ich gebe zu bedenken, dass diese Einladung Ihrem eigenen Wunsch entspricht. Sehen Sie darin eine Chance, die vielleicht nie wiederkehrt.«
»Aber Sie gestatten mir, dass ich auf ein paar Minuten in meine Wohnung verschwinde, um mich umzuziehen.«
Der hagere Mann im Fond lächelte. »Selbstverständlich!«
Zehn Minuten später stieg ich zu meinem Kollegen in den Wagen. Theodor Hartmann gab dem Fahrer ein Zeichen, und die Limousine stieß mit einem leisen
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