Spittelmarkt
sein.«
»Wer fände wohl nicht gern eine Aufgabe, die er gern zu erfüllen vermag?«
»Gern oder nicht gern; das ist nicht entscheidend! Eine Aufgabe kann auch übernommen werden, weil man begreift und erkennt, dass die eigene Tat unabweisbar ist.«
»In der Tat! Wenn das Gewissen es einem gebietet, muss man handeln!«
»Sie sprechen vom Gewissen und gehen davon aus, dass die meisten Menschen über eines verfügen!«, lächelte Santor. »Dabei hat ein Großteil der Menschen nicht einmal ein Bewusstsein ihrer selbst. Das Gewissen ist ein Zustand, in dem es keine Widersprüche gibt, und hat mit Moral, woran die Leute für gewöhnlich denken, wenn sie von ihrem Gewissen reden, überhaupt nichts zu tun.«
»Ein Verständnis für Moral ist für mich unabweisbar, um zu wissen, wie ich mich verhalten soll. Sonst könnten Antriebe Macht über mich gewinnen, denen ich nicht gewachsen bin.«
Santor machte eine wegwerfende Handbewegung. »Moral ist nur eine Art der Selbstsuggestion. Was in China moralisch ist, ist in Europa unmoralisch. Und was in Europa unmoralisch ist, ist in China moralisch.«
»Ich bin aber kein Chinese. Außerdem glaube ich, dass Gut und Böse an sich existieren; egal, ob jemand in Europa oder in China lebt.«
»Man kann sagen, dass es das Böse für den subjektiven Menschen überhaupt nicht gibt«, entgegnete Santor so freundlich wie entschieden, »denn niemand tut je absichtlich etwas Böses. Jeder handelt im Interesse des Guten, so wie er es versteht. Allerdings versteht es jeder auf eine andere Weise. Infolgedessen schlachten und töten die Menschen einander im Interesse des Guten. Der Grund ist wieder genau der Gleiche. Die menschliche Unwissenheit und der tiefe Schlaf, in dem sie leben. Wenn ein Mensch versteht, dass er schläft, und aufwachen will, ist alles, was ihm aufzuwachen hilft, gut – und alles, was ihn daran hindert, böse.«
»Mag sein. Für mich ist nur wichtig, dass ich Herr meiner Entscheidungen bin. Nur so kann eine übernommene Aufgabe die meine sein!«
»Da die Menschen schlafen, können sie überhaupt keine Entscheidungen treffen«, sagte Santor, »dafür fehlt es ihnen an Willenskraft. Zu der Arbeit an sich selbst, die zum Erwachen führen soll, gehört auch die Entwicklung des eigenen Willens. Die Leute haben Furcht davor, dem Willen eines anderen Menschen untergeordnet zu sein. Dabei ist die vorübergehende Unterwerfung unter den fremden Willen ihre einzige Chance, zu erwachen, und dadurch individuelle Unsterblichkeit zu erlangen.«
Alle Achtung, Gnostizismus, Mystik und Magie, dachte ich, zusammengeschüttet und durchgerührt – ohne einen Funken Sinn und Verstand. Warum sollte ich mich darüber mit Santor streiten, was würde das bringen?
Santor beugte sich ein Stück vor und betrachtete mich weiterhin freundlich. »Vor langer, langer Zeit befand ich mich in der gleichen Situation wie Sie heute«, sagte er, »und ich habe es nicht bereut, dass ich dem Rat, den man mir ehemals gab, bereitwillig folgte. Ich möchte nicht anmaßend klingen, jedoch gibt es viele, die froh wären, böte sich ihnen jemals die Chance, wie ich sie Ihnen heute gewähre.«
Ich hätte bei alledem nicht behaupten können, dass seine weitschweifigen Erklärungen vollständig an mir abgeprallt wären. Der Mann war eine Persönlichkeit, das spürte ich deutlich, wenngleich eine Persönlichkeit der dunklen Art. Ein interessanter Mensch war er allemal. Ich wusste auch, dass man immer, wenn man irgendwelche neuen Theorien hörte, eine instinktive Haltung der Ablehnung gegen diese einnahm, aber das bedeutete nicht, dass man resistent gegen sie war. Ein geschickter und kraftvoller Manipulator war durchaus in der Lage, die ihm entgegengebrachten Widerstände durch Beharrlichkeit und Wiederholungen und durch den geschickten Einsatz seiner Verführungskünste zu brechen. Santor war nicht nur einer der Gründer der Gesellschaft, sondern hatte sicherlich auch Oskar Behrend gut gekannt, und gerade weil er eine sympathische Ausstrahlung besaß, war mir klar, dass ich allen Anlass hatte, vor ihm auf der Hut zu sein.
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind, Herr Santor?«, erkundigte ich mich, weil irgendetwas an seinem Äußeren ungewöhnlich war.
»Natürlich – ich bin im vergangenen Monat 84 Jahre alt geworden.«
Ich musste ihn wohl konsterniert angesehen haben, denn Santor lachte laut auf und sagte: »Glauben Sie es mir etwa nicht? Ich zeige Ihnen gern meinen Ausweis. Da steht es schwarz auf weiß,
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