Spittelmarkt
Blicken der Zuschauer gnadenlos ausgesetzt, doch diejenige war, auf deren Seite sich körperliche Schönheit und sexuelle Wonnen vereinigten. Dieser Gewissheit entsprach es, dass sie ihre sexuellen Gefühle vor denjenigen, die sie im Halbdunkel umstanden, in keiner Weise zu verbergen suchte. Ihr selbstvergessenes Wimmern, die herausfordernde, lüsterne Lieblichkeit der Bewegungen ihres Körpers – all dies führte auch bei mir zu der erschütternden Erkenntnis eines unbewussten, dennoch gewaltigen Mangelgefühls, dem zu entkommen ich nicht vermochte.
Von den anderen Umstehenden, die fasziniert das gelassene und unaufgeregte Liebesspiel des jungen Paares betrachteten, wagte es keiner, auch nur ein Geräusch zu machen. Alle schienen auf etwas Weiteres zu warten, auf etwas noch Größeres, auf das der erregende Liebesakt bei aller Schönheit und süßen Schärfe erst hinführen mochte.
Unterstützt von den tastenden Berührungen des jungen Mannes hatte Veronika tief und konzentriert zu atmen begonnen. Jeder Anwesende, so auch ich, merkte, dass der Liebesakt in eine neue Phase getreten war. Veronikas Blick war nun offen und direkt auf ihren Partner gerichtet, als ob sie seine Augen in den Schlitzen der Maske gesucht und endlich gefunden hätte; sie wirkte nun, als wäre sie vollständig und ausschließlich auf ihr Gegenüber konzentriert und dadurch noch unempfänglicher gegenüber allem, was außerhalb des unsichtbaren Mantels geschah, der die beiden Schönen in ihrem freimütigen Liebesspiel umgab.
Zugleich war die Luft im Raum wärmer und stickiger geworden, so als ob sie sich gleichsam verdichtet hätte, was nicht nur der sexuellen Hitze der beiden Akteure oder der Erregung der Zuschauer geschuldet war. Etwas anderes, nicht Sichtbares und Unaussprechliches war wohl im Zimmer anwesend. Dadurch hatte ich das dumpfe Gefühl, von etwas umgeben zu sein, das sich meinem Verstand entzog.
Plötzlich erklang von irgendwoher eine Türglocke.
Ich starrte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und sah, wie sich außerhalb unseres kleinen Kreises direkt hinter dem Gestell mit den Liebenden etwas bewegte. Ein Gesicht wurde sichtbar, ein Kopf, der sich auf Höhe eines stehenden Menschen von durchschnittlicher Größe befand. Es leuchtete weiß, war ernst und alterslos, die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln geöffnet. Erst jetzt bemerkte ich auch die Gestalt, die zu dem Gesicht gehörte, ein Mann, der in ein silbernes Gewand, einen seltsamen bis zum Hals geschlossenen Anzug, gekleidet war.
»Die Toten kamen zurück von Atlantis, wo sie nicht fanden, wonach sie suchten; sie hoffen, sie finden es in dieser Zeit. Ist hier das Land, sind hier die Menschen, nach denen sie begehren, Menschen, in denen die Fülle neu entstanden ist? Ich bin ihr Bote und ich habe ihnen zu melden, ob der Tag, den sie erwarten, bereits gekommen ist.«
Seine Stimme klang heiser und guttural. Santor, der ihm am nächsten stand, antwortete: »Der Tag wird kommen, Meister, er ist noch nicht da, aber schon nahe!« Dann drehte er sich ein Stück zur Seite und wies mit der Hand auf das Paar, das sich in seinem Geschlechtsakt von dem Erscheinen des Wesens nicht hatte stören lassen, und sagte: »Herr, das Werk ist bereitet, ein neues Kind der Zeit ist von uns auserwählt, die Vollendung zu erlangen, ein Kind der Jugend, der Schönheit und der Tat. Erbarme dich ihrer; wir haben dir eines unserer schönsten Kinder als Opfer dargebracht. Entscheide, ob die junge Frau, die wir auf den Altar gebunden haben, würdig ist, noch im Leben erhöht zu werden. Solltest du sie nicht für würdig befinden, so erhöhe sie durch ein Opfer aus Fleisch und Blut!«
Mit plötzlichem Erschrecken musste ich an sexualmagische Opferrituale denken, an Rituale von der Art, wie sie James Frazer in seinem ›Goldenen Zweig‹ aus alten Zeiten und fremden Kulturen beschrieben hatte. Jäh ging mir durch den Kopf, was ich über diese Dinge gelesen hatte; etwa die Schilderungen, die davon handelten, wie das schönste Mädchen der Gruppe entkleidet, vom schönsten Jüngling genommen und während des Koitus vom Priester getötet wurde. Diese Gedanken verbunden mit meinem Wissen um den zweifelhaften Charakter der okkulten Gruppe, an deren Zeremonie ich mehr gezwungenermaßen als freiwillig teilnahm, bewirkten, dass ich mich ganz und gar unbehaglich zu fühlen begann. Ich überlegte, ob es mir wohl gelingen könnte, dem bösen Spuk ein Ende zu bereiten, falls sich hier
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