Spittelmarkt
der Schritt eines 60-Jährigen, vielmehr der eines 40-jährigen Mannes.
Sowie Santor das Reichspräsidentenpalais erreicht hatte, hielt er einen Augenblick inne, setzte dann nach einem kurzen Blick nach rechts seinen Weg unbeirrt fort. Er passierte zuerst das Reichsinnenministerium und kurz darauf das Reichsaußenministerium, gelangte danach zur Reichskanzlei, und ausgerechnet dort bog er in Richtung des Toreingangs ab, sodass er mir unversehens aus den Augen geriet.
Ich beschleunigte meine Schritte. Und nachdem ich selbst die Toreinfahrt zur Reichskanzlei erreicht hatte, sah ich, dass Santor mit einem Angehörigen von der Wachmannschaft sprach. Um nicht aufzufallen, ging ich weiter und passierte den fast bis zur Straße reichenden Anbau, der vor einigen Jahren dem alten Reichskanzleigebäude hinzugefügt worden war. Anschließend überquerte ich die Fahrbahn, wo ich auf der anderen Straßenseite meinen Weg ein weiteres Stück bis zu der Parkanlage fortsetzte, die sich schräg gegenüber der Reichskanzlei befand. Ich trat in den Parkweg und verbarg mich vor dem Laternenlicht im Schatten eines Baumes, ohne dass mir der freie Blick auf die Reichskanzlei versperrt worden wäre.
Santor sprach nicht mehr mit dem Wachmann, stand aber noch vor der Reichskanzlei. Er schien auf jemanden zu warten. Es vergingen ein paar Minuten, dann hatte das Warten ein Ende. Jemand trat zu ihm; ein anderer Mann, größer als Santor und von schwerem Körperbau.
Ich kannte diesen Mann, so wie die meisten Leute ihn kannten – denn sein Gesicht war gelegentlich in der Zeitung zu sehen, wenn auch viel seltener als das Gesicht seines Vaters. Seine groben Gesichtszüge waren den väterlichen indes nicht unähnlich, aber seine gesamte Erscheinung war ohne dessen vornehme Haltung und Art. ›Von Beruf Sohn‹ war die Bezeichnung für Menschen seiner Stellung, und bei dem Mann mit dem schweren Körperbau jedenfalls konnte kein Zweifel an der Trefflichkeit dieses Ausdruckes bestehen; denn seine ganze Bedeutung bestand darin, der Sohn des greisen Reichspräsidenten zu sein. Sein Name war Oskar von Hindenburg.
Was tat Oskar von Hindenburg in der Reichskanzlei? Normalerweise hätte man ihn eher drei Häuser weiter nördlich die Wilhelmstraße hinauf vermutet, wo er bekanntermaßen zusammen mit seiner Familie und seinem Vater lebte. Doch in diesem Moment fiel mir ein, gelesen zu haben, dass das Präsidenten-Palais renoviert wurde und die Familie vorübergehend Quartier in der Reichskanzlei bezogen hatte, während der Reichskanzler von Schleicher, dem dort das erste Wohnrecht gebührte, lieber in seiner Privatwohnung irgendwo um die Ecke residierte.
Es erschreckte mich nicht wenig, den Präsidentensohn in Begleitung eines Menschen wie Santor zu sehen, denn obwohl Oskar von Hindenburg als Persönlichkeit nicht bedeutend war, gehörte er zu der Handvoll Gestalten, die bekanntermaßen das Ohr des Reichspräsidenten besaßen.
Santor und der Präsidentensohn unterhielten sich, wie es von Weitem den Anschein machte, durchaus angeregt. Ungefähr fünf Minuten standen sie so beieinander, dann machte Oskar von Hindenburg einen Schritt zur Seite, drehte sich nach hinten und hob kurz den Arm, als ob er jemandem ein Zeichen geben wollte. Gleich darauf sah ich hinter ihm ein Paar Scheinwerfer aufleuchten, und eine Mercedes-Limousine hielt neben den Männern am Bordsteinrand.
Ein Chauffeur mit Schirmmütze entstieg dem Wagen, öffnete die Türen zum Fond, ließ beide Männer einstiegen und schlug die Türen zu. Die Limousine stieß vom Straßenrand ab und rollte durch das nächtliche Schneegestöber in südliche Richtung davon.
20
Immer wieder durchstreifte ich die Straßen zwischen dem Gendarmenmarkt und dem Spittelmarkt. Mir schien sicher, dass sich das Haus, in dem ich an der denkwürdigen vorweihnachtlichen Einweihungszeremonie teilgenommen hatte, irgendwo in dieser Gegend befand. In der Hoffnung, ein geheimes Zeichen zu entdecken, das mir einen Hinweis auf das geheimnisvolle Gebäude geben könnte, hielt ich vor hohen Fassaden inne und betrachtete die steinernen Strukturen, trat in Hauseingänge und Durchfahrten und las die Namen auf den Schildern; doch meine Hoffnung, irgendein Zufall könne mir gewissermaßen das Band von den Augen reißen, das ich bei der Anfahrt zu meinem bisher einzigen Besuch in das geheime Haus getragen hatte, erfüllte sich nicht.
So strichen die restlichen Januartage dahin, ohne dass etwas Wesentliches passierte oder jemand von
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