Splitter
gerufen. Aber erst vierzehn Minuten nach dem Aufprall.«
Sie reichte ihm den Zettel, der so dünn und durchsichtig war wie Butterbrotpapier. Marc sah auf und war noch mehr verwirrt, als er ehrliche Besorgnis in ihren Augen zu lesen glaubte.
»Moment«, sagte sie zögernd. Ihre Wangen wurden rot, und das Blatt in ihren Händen begann nervös zu zittern. »Sagen Sie bloß, Sie können sich daran nicht erinnern?«
8. Kapitel
Das ist unmöglich, dachte Marc. Völlig unmöglich. Er konnte die 112 nicht gewählt haben. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Sicher, es war seine Handynummer auf dem Notrufprotokoll, das auf Gott weiß welchen Wegen in seine Klinikakte gelangt war. Aber er konnte es auf keinen Fall gewesen sein. Nachdem sein Kopf erst gegen den Türrahmen und dann gegen das Lenkrad geschlagen war, hatte er das Bewusstsein verloren. Sofort, nicht erst vierzehn Minuten nach dem Aufprall.
Es klopfte, und Marc drehte sich um in der Erwartung, die Neurologin wieder zu sehen, die vor wenigen Minuten mit sorgenvoller Miene den Raum verlassen hatten. Doch im Türrahmen stand Professor Bleibtreu und trug ein gewinnendes Lächeln zur Schau, das sicher zahlreiche Werbeprospekte der Klinik zierte. »Was soll das ?«, fuhr Marc ihn an. »Ich dachte, ich bin hier hergekommen, um zu vergessen. Stattdessen verlasse ich Ihre Klinik jetzt mit noch viel schrecklicheren Bildern im Kopf.«
»Ich muss mich für das Verhalten von Frau Menardi entschuldigen, Dr. Lucas. Hier liegt ein bedauerlicher Irrtum vor.«
»Ein Irrtum?«
»Sie war nicht befugt, das anzusprechen.«
»Befugt?« Marc verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Soll das heißen, ich habe damals wirklich die Feuerwehr angerufen ?«
»Nein.«
Bleibtreu machte eme einladende Handbewegung, doch Marc zog es vor, beim Fenster stehen zu bleiben, an statt sich wieder auf das Sofa zu setzen.
»Es war ein Passant«, erklärte der Professor. »Der Mann, der als Erster an der Unfallstelle war, hatte kein Handy dabei, also griff er durch die zersplitterte Seitenscheibe und nahm Ihren Apparat.«
Auf der Straße elf Stockwerke unter ihnen machten Autofahrer mit einem Hupkonzert auf sich aufmerksam. Entweder Stau oder Hochzeit. Marc schob die cremefarbenen Lamellenvorhänge zur Seite, konnte jedoch wegen des planenverhängten Baugerüsts vor dem Fenster kaum etwas erkennen. »Woher wissen Sie das alles?«
Der Professor sah ihn erstaunt an. »Es gibt eine Abschrift des Unfallprotokolls in Ihrer Patientenakte. In Ihrer E-Mail haben Sie einer Einsicht ausdrücklich zugestimmt.«
Marc erinnerte sich dunkel an das Kästchen, das er in dem Downloadformular an geklickt hatte. An jenem Abend war ihm alles egal gewesen.
»Haben Sie selbst den Bericht denn nie zu Gesicht bekommen?«
Marc schüttelte den Kopf. Er hatte auch gar nicht erst danach gefragt. Auf weitere grauenhafte Details aus dem schrecklichsten Tag seines Lebens konnte er gut verzichten.
»Ich verstehe«, sagte Bleibtreu. »Sie sind natürlich noch in der ersten Trauerphase.«
Erstens: Nicht wahrhaben wollen. Zweitens: Aufbrechende Emotionen. Drittens: Suchen, sich finden, trennen. Viertens: Neuer Selbst-und Weltbezug. Marc kannte die Einteilung. Zu seinem Arbeitsbereich gehörte die Seelsorge für die Gestrandeten in seinem Büro, und dieses Schema hatte ihm geholfen, die Situation der Kinder besser zu verstehen, die einen Weggefährten auf der Straße verloren hatten. Doch für sich wollte er es nicht gelten lassen.
»Ich leugne Sandras Tod nicht«, widersprach er. »Aber Sie wollen ihn verdrängen!«
»Ich dachte, eben das ist der Weg, den Sie empfehlen, Professor? Vergessen!«
Bleibtreu war neben ihn getreten und stand nun ebenfalls am Fenster. Draußen wurde es stürmisch, und der Wind drückte die Plane vor dem Baugerüst nach innen.
»Nun, es mag paradox klingen«, sagte der Chefarzt. »Aber vor dem Vergessen kommt das Erinnern. Ich fürchte daher, wir müssen den Unfallhergang noch einmal gemeinsam durchgehen.«
»Weshalb?« Marc drehte sich zu ihm.
»Damit wir keine verstecken Erinnerungen übersehen, die später wie Unkraut aus dem Bodensatz Ihres Unterbewusstseins sprießen können.« Bleibtreu legte seine altersfleckige Hand auf Marcs Schulter, und die unerwartete Nähe durchbrach für einen kurzen Moment seine instinktive Abwehrhaltung.
Die erste Phase. Leugnen. Verdrängen.
9. Kapitel
Sie setzten sich wieder.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir waren auf dem Rückweg von einer kleinen
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