Splitter
Familienfeier in der Villa ihres Vaters, als es passierte.«
Bleibtreu beugte sich nach vorne. »Was war der Anlass?«
Der Wind vor dem Fenster rüttelte jetzt so stark an dem Baugerüst, dass man das Knarren und Ächzen der Verstrebungen selbst durch die schallgedämpften Isolierglasfenster hörte. Marc seufzte.
»Sandra hatte einen großen Auftrag für ein neues Drehbuch bekommen. Sie war Schauspielerin und Autorin, aber das wissen Sie ja.«
Beim Sprechen rutschte er unruhig auf der Couch hin und her. Sandra hatte sich immer darüber amüsiert, dass er ein Zappler war. Im Kino konnte er kaum eine Szene lang ruhig sitzen bleiben.
»Es sollte ihr erstes Drehbuch für einen Kinofilm werden, die Amerikaner waren bereit, eine Riesensumme dafür zu zahlen, und darauf hatten wir gemeinsam mit ihrem Vater angestoßen. »
»Professor Constantin Senner?«
»Der Chirurg, genau. Er ist …« Marc stockte. »Er war mein Schwiegervater. Die Senner-Klinik wird Ihnen vielleicht ein Begriff sein.«
»Wir empfehlen sie allen unseren Patienten, wenn ein operativer Eingriff nötig sein sollte. Gottlob kommt das nicht häufig vor.«
Marc wechselte wieder die Sitzhaltung und zog sich nervös die Haut unter dem Kinn nach unten, bevor er fortfuhr. »Wir passierten eine kaum befahrene Waldstraße, die von Sakrow Richtung Spandau führt.«
»Sakrow bei Potsdam?«
»Dann kennen Sie es ja. Das Familienanwesen der Senners liegt direkt am Wasser mit Blick auf die Pfaueninsel. Wie auch immer, jedenfalls fuhr ich etwas zu schnell für die einspurige Straße. Sandra war wütend darüber, ich glaube, sie drohte, auszusteigen.« Marc schloss kurz die Augen und versuchte wie so oft die wenigen Erinnerungen an die Unfallfahrt zu verdrängen. »Was ist dann passiert?«, fragte Bleibtreu vorsichtig. Je leiser er sprach, desto weiblicher klang seine Stimme.
»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Die Erinnerungen an die letzten Stunden vor dem Unfall sind gelöscht. Mehr als das, was ich Ihnen erzählt habe, weiß ich nicht mehr. Mein Schwiegervater spricht von einer retrograden Amnesie. Die Feier bei Constantin, die Unterhaltungen auf dem Rückweg, das alles ist weg.« Marc lachte freudlos. »Leider nur das. Für den Rest sind Sie jetzt zuständig.«
»Hmm.«
Der Arzt verschränkte die Arme vor der Brust, was den argwöhnischen Unterton seiner nächsten Frage unterstrich. »Und die Erinnerung an die letzten Sekunden im Auto ist nie zurückgekommen?«
»Doch. Teile davon, aber erst in jüngster Zeit. Allerdings bin ich mir nicht sicher, was davon ein Traum ist und was sich wirklich ereignet hat.«
»Interessant. Wovon träumen Sie denn?«
Marc winkte ab. »Meistens kann ich mich am nächsten Morgen nur an unzusammenhängende Dialogfetzen erinnern. Sandra redet auf mich ein und fleht mich an, es nicht zu verhindern.«
»Hast du nicht selbst immer gesagt, der Zweck heiligt die Mittel? Ist das nicht dein Lebensmotto?«
»Du bist wahnsinnig, Sandra. Der Zweck heiligt doch niemals den Tod.«
»Was wollten Sie verhindern?«
»Keine Ahnung. Ich vermute, mein Unterbewusstsein spielt mir einen Streich, und ich rede hier von dem Unfall.« Marc überlegte gerade, ob er dem Professor wirklich jedes Detail ihrer letzten Unterhaltung wiedergeben sollte, als dieser die quälendste aller Fragen stellte.
»Wieso hat sie sich abgeschnallt?«
Er schluckte. Einmal, dann erneut, doch der Kloß im Hals schien nur noch größer zu werden.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Sie griff nach hinten, vermutlich, um sich etwas zu essen zu holen. Sie war im sechsten Monat, und wir hatten immer etwas Süßes dabei, falls der Heißhunger zuschlug. Und das tat er regelmäßig, vor allem, wenn Sandra sauer war.«
Marc fragte sich, ob jemand die Schokoladentafel aus dem Handschuhfach genommen hatte, bevor das Wrack in der Presse gelandet war, und bekam kaum noch Luft.
»Was passierte dann ?«, fragte Bleibtreu leise. Ich sah, wie sie plötzlich etwas in der Hand hielt. Ein Foto? Sie zeigte es mir, aber es war farblos und grobkörnig. Ich konnte nichts erkennen. Überhaupt bin ich mir nicht sicher, ob ich das wirklich erlebt habe. Denn ich sehe es nur in meinen Träumen, auch wenn die von Tag zu Tag deutlicher werden.
Bisher hatte Marc lediglich seinem Schwiegervater davon erzählt, und auch das nur ansatzweise, weil er dachte, der Traum könnte eine Nebenwirkung der Medikamente sein, die er wegen des Splitters nehmen musste.
»Dann ist der Reifen
Weitere Kostenlose Bücher