Splitter
Akte und hielt es so, dass Marc nichts erkennen konnte. »Sie kommen nach ihm«, sagte sie und blätterte weiter. Marc verzog keine Miene, obwohl er Menardi am liebsten den Fragebogen aus der Hand gerissen hätte. Die Ähnlichkeiten mit seinem Vater waren tatsächlich frappierend, fielen Außenstehenden jedoch selten auf, da die Übereinstimmungen weniger das Äußere als vielmehr Charakter und Lebenseinstellung betrafen. Auch Frank Lucas war ein Kämpfer gewesen, hatte ebenso wie Marc das Abitur an der Abendschule nachgeholt, um sich dann als Anwalt den kleinen Leuten zu widmen. Am Anfang, als er sich noch kein eigenes Büro hatte leisten können und die Kanzlei im Wohnzimmer untergebracht war, saß die halbe Nachbarschaft bei ihm auf der Couch und ließ sich von Frank beraten. Betrogene Ehefrauen, Trunkenheitsfahrer, Kleinkriminelle, die bei ihren Gaunereien erwischt worden waren. Der Kiez nutzte Papa Lucas mehr als Seelsorger denn als Anwalt. Nicht selten stundete er seinen »Freunden« das Honorar oder ließ es sogar ganz unter den Tisch fallen, auch wenn es von Mama Lucas dann ein Donnerwetter setzte, weil sie mit der Miete im Rückstand waren. Doch einige der Kleinkriminellen, die er pro bono behandelt hatte, machten Karriere. Ganoven, die auf einmal bar bezahlen konnten und nie eine Quittung wollten. Und mit dem Abstieg seiner Klienten begann der sanfte Aufstieg der Kanzlei, wenn auch nur für kurze Zeit.
»Ihr Vater starb früh an einer unerkannten Leberzirrhose, Ihre Mutter, eine Hausfrau, wenige Monate später«, fuhr Menardi fort.
Woher weiß sie das alles?
Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, hatte er diese und die folgenden Spalten des Fragebogens nicht mehr ausgefüllt. »Sie haben einen jüngeren Bruder, Benjamin?«, fragte Menardi weiter.
Ein leichter Druck legte sich um Marcs Hals, und er griff zum Wasserglas. Offenbar hatte die Neurologin ihre Zeit mit einer Online-Recherche über ihn vergeudet.
»Benny. So nannte er sich zumindest, als ich ihn das letzte Mal gesprochen habe.«
»Und wann war das?«
»Nun, lassen Sie mich nachdenken.« Marc trank einen Schluck und stellte das Wasserglas auf den Couchtisch zurück.
»Das war, ähm … Montag, Dienstag, Mittwoch …« Er zählte die einzelnen Wochentage an den Fingern ab. »Also grob geschätzt an einem Donnerstag. Vor etwa anderthalb Jahren.«
»Am Tag seiner Zwangseinweisung?« Menardi klappte die Akte zu und tippte sich mit ihrem Stift gegen die vorderen Schneidezähne. »Nachdem ein wiederholter Suizidversuch fehlgeschlagen war?«
Der Druck um den Hals wurde wieder stärker. »Hören Sie, ich weiß nicht, wie Sie an all diese Informationen gekommen sind. Aber ich bin ganz bestimmt nicht hier, um mit Ihnen über alte Familiengeschichten zu plaudern.«
Er machte Anstalten, aufzustehen, und die Ärztin hob beschwichtigend die Hand.
»Dann erzählen Sie mir doch bitte von dem Trauma, das Sie letztlich bewogen hat, sich bei uns zu melden.« Marc zögerte einen Augenblick, sah erneut auf die Uhr und ließ sich dann wieder auf die Couch fallen. »Ich höre Stimmen«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Da, schon wieder. Jemand hat ›Wie bitte?‹ gesagt.« Menardi betrachtete ihn wortlos, dann machte sie sich eine Notiz in seiner Akte.
»Was schreiben Sie da?«, wollte Marc wissen. »Ich halte fest, dass Sie sich hinter Ihrem Humor verstecken. Typisch für kreative und intelligente Menschen. Das macht es allerdings schwieriger, Sie zu therapieren.«
»Ich will ja gar nicht therapiert werden.«
»Sie sollten das aber in Erwägung ziehen. Würden Sie mir bitte den Unfallhergang schildern?«
»Wieso fragen Sie mich überhaupt, wenn Sie ohnehin schon alles wissen?«
»Weil ich es noch einmal aus Ihrem Mund hören will. Ich achte dabei weniger darauf, was Sie erzählen, als wie Sie es tun. Ihre Versuche, alles ins Lächerliche zu ziehen, sind zum Beispiel aufschlussreicher als die Tatsache, dass Ihre Frau vielleicht noch am Leben wäre, wenn Sie sofort Hilfe geholt hätten.«
Marc hatte das Gefühl, als hätte die Ärztin gerade ein Ventil an seinem Körper entdeckt, durch das man wie aus einer Luftmatratze die Luft entweichen lassen konnte. Er meinte das Zischen zu hören, mit dem jegliche Kraft aus ihm hinausströmte.
»Was soll das denn heißen? Ich konnte keine Hilfe holen. Ich war bewusstlos.«
»Ach ja?« Die Ärztin runzelte die Stirn und warf wieder einen Blick in die Akte. »Laut diesem Unfallbericht hier haben Sie die Feuerwehr
Weitere Kostenlose Bücher