Splitter
seinen Füßen stellte. Marc setzte sich auf einen weißlackierten Holzstuhl und sah sich um.
Im Gegensatz zu der antiseptischen Ordnung, die in den anderen Räumen der Klinik herrschte, wirkte dieses Zimmer fast verwahrlost. Benutzte Kaffeetassen und ein angebissenes Sandwich gesellten sich auf dem Schreibtisch zu wild übereinandergestapelten Fachbüchern und Pati enten blättern. Im grellen Halogenlicht der Deckenstrahler erkannte Marc einen Fettfleck auf der Krawatte des Professors, der ihm im gedämpften Halbdunkel der Limousine und des Untersuchungs zimmers bislang nicht aufgefallen war. »Früher dachte man, es gäbe für jede Erinnerung einen ganz bestimmten Platz im Gehirn. Aber dem ist natürlich nicht so.«
Bleibtreu rollte mit seinem Sessel über das Parkett, wobei er geschickt an den Aktenbergen auf dem Boden vorbeimanövrierte. Dann öffnete er einen laminierten Büroschrank und kam mit dem Modell eines Gehirns zurück, das er mit Mühe zwischen das Telefon und einen hantelgroßen Briefbeschwerer zwängte, direkt auf einer aufgeschlagenen Fachzeitschrift für Neuropsychologie.
»Ich will es Ihnen demonstrieren.«
Das aus einem künstlichen grauen Schwamm geformte Modell war etwa so groß wie ein Kinderfußball und steckte auf einem Holzstab in einem polierten Standfuß.
Als Marc seine Aufmerksamkeit wieder Bleibtreu zuwandte, hielt der zwei gläserne Ampullen in bei den Händen. Die linke war mit roter, die rechte mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt.
»Beginnt jetzt die Zaubervorstellung?«
»So ähnlich. Passen Sie gut auf.«
Der Professor brach die linke Ampulle am Hals ab und hielt sie schräg über die graue Gehirnmasse.
»Ein Gedanke ist wie ein Tropfen.« Mit diesen Worten ließ er etwa einen Milliliter der blutroten Tinte auf den Kortex des Modells perlen. Sofort bahnte sich der Tropfen seinen Weg durch das Kapillarsystem des Schwamms.
»Wenn ein Erlebnis zu einer Erinnerung wird, lagert diese sich in Abermillionen von Nervenverbindungen ab.«
»Den Synapsen.«
»Sehr richtig. Sehen Sie genau hin, Mare.« Der Professor tippte mit einem Kugelschreiber auf die verschiedenen Regionen des Gehirns, die sich nach und nach rot färbten. »J ede Erinnerung ist in unzähligen Querverbindungen gespeichert. Ein Motorengeräusch, Menschen, die sich streiten, ein Geruch, ein bestimmtes Lied, das vielleicht im Radio lief, der Blick auf das Wasser, das Rauschen der Blätter im Wald, all das kann Ihr Gedächtnis reaktivieren und die schrecklichen Erinnerungen an den Unfall wieder hervorrufen.«
»U nd wie wollen Sie ihn aus meinem Kopf löschen ?«, fragte Marc.
»Gar nicht.« Bleibtreu brach die andere Glasampulle. »J edenfalls nicht isoliert. Wir können leider nur Ihr gesamtes Gedächtnis tilgen.«
»Moment mal.« Marc räusperte sich und tippte gegen einen letzten grauen Bereich am Vorderhirn des Modells. »Habe ich das richtig verstanden, Sie wollen mir alle Erinnerungen nehmen?«
»Die künstliche Herbeiführung einer totalen Amnesie. Ja. Das ist die einzige Möglichkeit. Daran forschen wir.« Bleibtreu drehte das Modell zu Marc, damit dieser besser sehen konnte, wie sich die rote Farbe immer weiter ausbreitete.
»Ein Gedächtnisverlust wird im Wesentlichen durch drei Faktoren ausgelöst«, zählte er auf. »Durch starke traumatische Erlebnisse, die der menschliche Geist vergessen will, durch Gehirnschädigungen infolge eines Unfalls und durch chemische Wirkstoffe wie Betäubungsmittel.« Bleibtreu schüttete jetzt den farblosen Inhalt der zweiten Ampulle über den Schwamm, und Marc beobachtete erstaunt, wie die Rotfärbung an einigen Stellen sofort wieder schwächer wurde.
»Lassen Sie mich raten. Sie setzen auf die Chemie und haben eine Alzheimer-Pille entwickelt, die ich schlucken soll?«
»So in etwa. Es ist natürlich etwas komplizierter, aber im Prinzip haben Sie recht.«
»Nur aus rein journalistischem Interesse. Was geschieht danach?«
Die rötliche Verfärbung war mittlerweile fast vollständig wieder aus dem Schwamm gewichen. »Sie meinen, nachdem wir eine Amnesie bei Ihnen herbeigeführt haben?«
»Ja.«
»Ganz einfach. Wir laden Sie wieder auf.«
»Bitte ?«
»Natürlich nur mit den Erinnerungen und Erlebnissen, die Sie auch wirklich zurückbekommen wollen. Es ist vergleichbar mit der Neuformatierung eines Computers. Wenn man den Fehler im System nicht erkennen kann, löscht man am besten alles und spielt die funktionierenden Programme nach und nach wieder
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