Splitterfasernackt
herpendeln darf, wie ich Lust und Laune habe. Also beschließe ich, immer zwei Wochen in der Schweiz und drei Wochen in Berlin zu verbringen. Die Zeit zu Hause widme ich endlich wieder wie früher den Kindern: Ich baue Sandschlösser, backe Eisenbahnkuchen, bastele Lichterketten und vergesse, wie schwer es ist, groß zu werden. Und wie schwer es war, meine eigene Kindheit zu bestehen.
Ich treffe mich sogar mit Freunden, die ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen habe, obwohl eigentlich Isolation mein einziger Lebensinhalt ist.
In der Schweiz wiederum sitze ich häufig am Laptop und schreibe oder ich spaziere an der Reuss entlang. Termine mache ich nur so viele aus, wie ich möchte, manchmal mehr, manchmal weniger und manchmal tagelang gar keine. Die meisten meiner Gäste kenne ich nach dem zweiten Schweizaufenthalt schon ziemlich gut, es kommen zwar immer wieder ein paar neue hinzu, aber auch die werden bald zu bekannten Gesichtern. Es ist ein unglaubliches Gefühl zu wissen, dass sich Männer in ihr Auto setzen und über eine Stunde quer durch die Schweiz fahren, nur um bei mir anzukommen.
Ich wünschte, ich könnte das auch.
An einem kalten Winterabend lerne ich schließlich Patrick kennen. Er klingt sehr freundlich am Telefon, macht um Punkt 19 . 45 Uhr seinen Bestätigungsanruf und steht wie verabredet um 20 . 00 Uhr lächelnd und mit einem Blumenstrauß sowie einer Flasche Orangenblütenmassageöl vor meiner Haustür.
Die Stunde mit ihm ist schön, und als Patrick am nächsten Tag anruft und fragt, ob wir uns nicht vielleicht einmal so treffen könnten, einfach zum Quatschen oder um gemeinsam etwas zu unternehmen, da sage ich: »Ja.«
Anschließend bekomme ich einen Schock. Wegen mir.
»Seit wann kooperierst du in unserer Freizeit mit dem Feind?«, fragt Mia.
»Seit wann denkst du darüber nach, mit dem Feind essen zu gehen?«, faucht Ana.
»Das kann nur schiefgehen …«, wispert Mia.
»Das wird eine Katastrophe!«, schnauzt Ana.
»Aber ich will nicht immer alleine sein«, entgegne ich den beiden. »Sonst gehe ich noch verloren …«
Da setzt sich Ana auf den Fußboden und malt ein Bild, auf dem nichts zu sehen ist. Dann hält sie es mir vor die Nase und sagt: »Guck mal, das bist du.«
Ich starre sie an und zögere.
Ich könnte Patricks Nummer wählen und ihm erzählen, dass mein gefährlicher Zuhälter Igor jeden Kunden, der versucht, sich privat mit mir zu treffen, einbetonieren und in der Reuss versenken lässt. Ich könnte absagen. Auch ohne jeden Grund.
Aber ich tue es nicht.
Und schneller, als ich gedacht hätte, werden Patrick und ich Freunde. Von unserem ersten privaten Treffen an sehen wir uns fast jeden Tag – ob nun zum Mittagessen, zum Abendessen oder einfach, um ein bisschen shoppen zu gehen und einen guten Film zu gucken. An den Wochenenden machen wir Ausflüge nach Luzern oder Zürich. Irgendetwas fällt uns immer ein, und das Verrückte daran ist, dass es mich tatsächlich glücklich macht. Glücklich. Das ist eines dieser Worte, das sich auf meiner Zunge immer ausgeliehen oder gestohlen anfühlen wird.
Und trotzdem koste ich es aus.
Patrick und ich sind Freunde, nichts weiter. Und ich mache ihm von Anfang an klar, dass er für mich niemals mehr sein wird. Er scheint das zu akzeptieren, auch wenn er gerne mit mir zusammen wäre. Und nachdem wir uns eine Weile kennen, übernachte ich sogar manchmal bei ihm. Wir haben niemals Sex, und wir teilen uns auch nicht die Bettdecke. Aber es ist trotzdem ein Sieg über Ana und Mia. Und es ist schön, Patrick in meinem Leben zu haben, obwohl ich vom ersten Tag an weiß, dass es nur für eine kurze Zeit sein wird.
Denn ich bin immer das Mädchen, das geht.
Das Mädchen, das rennt.
Das Mädchen, das flieht.
Das Mädchen, das niemand halten kann.
An vielen Abenden liege ich vor dem Schlafengehen in Patricks Badewanne, umgeben von riesigen Schaumbergen und dem Duft von Johannisbeer-Shampoo. Dort, in dieser Sicherheit, gefangen in dem gleichmäßigen Ablauf, spüle ich sorgfältig die Männer des Tages von meinem Körper. Anschließend kuschele ich mich in ein großes Handtuch, das Patrick mir jedes Mal schon neben die Badewanne gelegt hat, und dann tappe ich auf Zehenspitzen hinüber ins Schlafzimmer. Dort lasse ich meine erschöpften Glieder und mein klopfendes Herz neben Patrick zur Ruhe kommen und warte still und geduldig, bis er endlich eingeschlafen ist. Erst dann erlaube ich es mir, den Tag loszulassen. Den Tag,
Weitere Kostenlose Bücher