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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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sanftmütige Erlebnisse, erinnerungswürdige Männer und unbezahlbare Stunden.
    Aber dieses Geschäft vollzieht eine Gratwanderung auf jedem Körper. Und es hinterlässt seine Abdrücke und Spuren, die sich nie mehr wegwischen lassen.
    Denn auch wenn alles gut läuft, wenn die Schwänze nicht allzu groß sind: Angebumst ist jede Seele in diesem roten Licht.
     
    Nachdem sich das Mädchen mit den schiefen Zähnen und den traurigen Augen angezogen und Chase’ Wohnung verlassen hat, hole ich mir eine Decke aus dem Schlafzimmer und rolle mich darin auf dem großen Sofa zusammen. Chase sitzt mir gegenüber und liest vertieft in seinem Drehbuch. Seine Haare sind verwüstet, und er trägt nichts weiter als weiße Boxershorts.
    Er sieht so schön aus, dass es weh tut.
    Es gibt bestimmt viele Frauen, die gerne von ihm gebucht werden, auch wenn sie anschließend wund zwischen den Beinen sind. Und sei es nur, um ihn später irgendwo auf einem Plakat zu sehen und dabei sagen zu können: »Mit dem habe ich geschlafen!«
    Aber arbeite mal für einen russischen Zuhälter, der dich von einem Termin zum nächsten schickt und dem es scheißegal ist, dass deine Muschi brennt oder blutet, der herausfordernd mit deinem Pass vor deiner Nase herumwedelt und fragt: »Na, willst du ihn irgendwann zurückhaben, willst du deine Familie jemals wiedersehen? Ja? Nein? Das ist ganz allein deine Entscheidung …« Da ist es dann egal, wie bemerkenswert ein Freier ist, wie reich, wie ansehnlich, das Einzige, was zählt, ist, dass er schnell kommt und keine zweite, geschweige denn dritte Runde will.
     
    »Lilly? Lilly! Wovon träumst du jetzt schon wieder? Schreibst du ein Buch in Gedanken? Einen Krimi? Ein Kinderbuch? Eine Liebesgeschichte? Lass mich teilhaben an deiner künstlerischen Empfindsamkeit!« Chase’ Stimme reißt mich aus dem Irrgarten meiner Gedanken.
    Er steht direkt neben mir und wedelt mit seinem Drehbuch vor meiner Nase herum.
    »Was ist los?«, frage ich.
    »Nichts«, erwidert Chase, »du hast nur so abwesend vor dich hin gestarrt, da dachte ich mir, ich sollte dich lieber zurück in die Wirklichkeit befördern.«
    »Danke«, sage ich.
    Mein Mund ist trocken und meine Stimme einen Tick zu hoch. Auf einmal frage ich mich, ob er mich wohl retten könnte. Ob er derjenige sein könnte, der da ist, wenn ich ankomme – bei mir, und dem Mädchen, das ich eines Tages wieder sein möchte.
    »Was guckst du mich denn so an?«, fragt Chase schmunzelnd und wirft das Drehbuch zu mir auf die Decke. »Du süßes kleines Wesen mit deinen riesigen dunklen Augen, was denkst du gerade?«
    Ich schließe meine Augen und vergrabe den Kopf in einem Kissen, aber Chase zieht es mir weg, legt eine Hand an meine Wange, zieht mich zu sich heran und küsst mich.
    Er schmeckt nach Rotwein und nach Koks.
    Er schmeckt nach Halt und nach Illusionen.
    Er schmeckt nach Schall und Rauch.
    Er schmeckt nach Schönheit.
    »Hör auf«, sage ich und wende mich ab. »Du blendest mich.«

4
    D u solltest
ficken
und
Kind
nicht in ein und demselben Atemzug verwenden«, sagt eine der unzähligen Therapeutinnen, zu denen ich mich in meinem Leben immer mal wieder schleife, zwei Tage vor Weihnachten zu mir. »Das klingt viel zu kalt und taktlos, so bist du nicht, Lilly.«
    Ach so. Dann ist ja gut.
    Ich bin also kein geficktes Kind.
    Da habe ich wohl etwas falsch verstanden. Hätte sie mir das nicht schon früher sagen können!?
    Würde es eigentlich besser klingen, wenn ich penetriert sagen würde? Oder: mit sechs Jahren in die Kunst des Geschlechtsverkehrs eingeführt? Sollte ich mich sanfter ausdrücken, anständiger, unschuldiger? Bin ich weniger gebumst, wenn ich von
erzwungenem Beischlaf
spreche? Oder wenn ich gar nicht mehr spreche und mein Wortgewand ausziehe, um endgültig splitternackt dazustehen?
    Nein. Wahrscheinlich nicht.
    Kalt und taktlos.
    Wäre mein Vergewaltiger warmherzig und taktvoll gewesen: Er hätte mich nicht gefickt.
    Ich wäre weniger aufbrausend; meine Wut hätte einen anderen Namen.
    »Mit wie vielen Professoren mussten Sie vögeln, um Ihren Doktortitel zu bekommen?«, frage ich meine Therapeutin. »Zwei, drei, dreißig, dreihundertfünfzig?«
    Dann spaziere ich aus ihrer Praxis, nicht ohne den gesamten Stapel ihrer Visitenkarten mitgehen zu lassen, um diese voller Elan in die nächstbeste Mülltonne zu schmeißen. So leicht beendet man eine Therapie. Und da ich ja sowieso nur viermal im Jahr dorthin gegangen bin, werde ich die Kalorien, die ich

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