Splitterfasernackt
dass ein Jahr in meinem Leben so sein würde wie dieses. Ich hätte nie gedacht, dass ich so dünn, so krank, so unjungfräulich und so weit weg von der Norm sein könnte wie in diesen Zeiten.
Es wäre schön, wieder ein ganz normales Mädchen sein zu können. Aber ich bin splitterfasernackt. Und auch wenn ich manchmal halbwegs gesund aussehe – ich heiße seit Jahren Ana. Ihr Name beschreibt mein Leben.
Während ich auf dem Fensterbrett sitze und auf meinen nächsten Kunden warte, blicke ich auf die eingeschneiten Dächer der Häuser, die das gegenüberliegende Ufer der Reuss säumen, und habe schreckliche Sehnsucht nach mir selbst.
Aber nur noch ein Tag, dann ist es endlich vorbei.
Ein neues Jahr. Ein Ansturm neuer Männer.
Oder auch nicht. Je nachdem, was ich so treiben werde.
Mein Handy fängt an zu klingeln, der Ton verrät mir, dass es Patrick ist, einen Moment lang zögere ich, strecke eine Hand in Richtung Handy aus, um den Anruf entgegenzunehmen, aber dann ziehe ich meine Fingerspitzen wieder zurück, blicke einfach weiter aus dem Fenster und warte ab, bis das Klingeln verstummt ist.
Patrick möchte Silvester mit mir verbringen, das hat er mir bei jedem unserer letzten Telefonate gesagt, und dann hat er es mir auch noch per E-Mail geschrieben.
Nur wir beide: Gemeinsam und glücklich ins neue Jahr starten!!!
So hat er es formuliert.
Mit drei Ausrufezeichen.
Er hat nicht verstanden, dass »starten« für mich das falsche Wort ist. »Flüchten« würde es wohl eher treffen. Und »nur wir beide«, was soll das heißen? Ana und Mia würden nie auch nur einen einzigen Schritt von meiner Seite weichen. Außerdem will ich dieses Jahr beenden, wie ich es begonnen habe: Alleine. Leise. Unvollkommen. Wartend. Hoffend. Nicht allzu nah bei Ana und Mia stehend. Entfernt genug von dem kleinen Mädchen.
Wenigstens am letzten und am ersten Tag eines Jahres will ich einfach ich selbst sein können, ich will keine Rolle spielen müssen, für irgendwen, ganz besonders nicht für einen Mann. Ich will nichts erklären müssen, nichts entschuldigen, ich will nicht lügen, nicht sprechen. Ich will nur dastehen, an der aufgewühlten Reuss, und ein bisschen von dem Feuerwerk sehen, während der Wind in meinen Haaren spielt.
Das ist ausreichend Glück.
Ich will kein Sektglas in der Hand halten müssen, ich will nicht freudestrahlend grinsen. Ich will niemanden küssen. Ich will keinen Sekt erbrechen oder viel schlimmer noch Tapas oder Käsefondue oder Torte.
Patrick ist nett und zuvorkommend. Er macht mir Komplimente, er macht mir Geschenke, er achtet mich, er ist höflich, er ist aufmerksam. Er hält mir sämtliche Türen auf, er trägt meine Taschen, er bestellt im Restaurant für uns beide, er trägt mich auf Händen.
Aber ich kann das nicht.
Ich kann nicht sein Traummädchen sein.
Denn er sagt: »Es ist so schön, dich im Arm zu halten, komm her zu mir und lass mich dich ganz fest drücken!«
Ich verbrenne mich an seinen Worten. Ich werde taub von seinen Berührungen. Wie könnte ich eine Beziehung führen, die mich nicht einmal ansatzweise erkennt?
Wenn ich bei Patrick übernachte, wälze ich mich die halbe Nacht lang hin und her und versuche, so weit es geht, von ihm wegzurutschen, denn ich kann nicht schlafen, wenn er mich im Arm hält, und ich kann nicht atmen, wenn ich seine Wärme spüre. Aber trotzdem treffe ich mich gerne mit ihm. Vielleicht, weil sein Leben das absolute Gegenteil von meinem ist. Vielleicht, weil ich weiß, dass er nicht die geringste Bedrohung für mich ist; und weil mir klar ist, dass ich jederzeit gehen kann.
Patrick zeigt mir eine Normalität und Ruhe, die ich nicht nachempfinden kann, die ich anstarre, fasziniert wie ein kleines Kind von seinem ersten selbstgeschmückten Tannenbaum. Es tut mir leid um ihn, weil ich weiß, dass er sich mehr von mir erhofft – viel mehr, als ich ihm je geben könnte. Ich will sein Herz nicht brechen.
Aber ich werde es doch.
»Du machst mich glücklich! Wie schön du dich an mich kuschelst, wir beide brauchen gaaaanz viel Zärtlichkeit! Ich umarme dich, so fest ich nur kann«, das hat Patrick einmal zu mir gesagt.
Noch nie hat jemand, in einem einzigen Satz, so viele Drohungen an meinen Kopf geworfen wie er in diesem Moment. Ohne mit der Wimper zu zucken, ohne zu spüren, wie ich vor Panik zu einer ausgestopften Leiche wurde. Und dann hat er noch hinterhergehauen: »Ich liebe dich.«
Ich. Liebe. Dich.
Nachdem wir uns ungefähr einen Monat
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