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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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erlitten habe. Mein Körper ist wahrscheinlich ein Knallfrosch, der jede Sekunde losknattern könnte, gegen Steine und Bäume, über Kanalisationsdeckel zu Hydranten, von Pflastersteinen auf Rasen und ab durch die Gassen und zwischen die Autoreifen hüpft, bis nichts mehr von ihm übrig ist als ein ausgebranntes, zerfetztes Gerippe.
    Und ich weiß, dass ich auch an Silvester allein sein werde.
    Es sei denn, ich habe gerade einen Freier.
    Als ich in der Schweiz lande, bin ich mit einem Mal seltsam glücklich. Ich freue mich über die vielen E-Mails, SMS und Anrufe, die ich zum Abschied aus Berlin erhalten habe, obwohl ich mich des Öfteren darüber wundere, warum meine Freunde mich überhaupt noch mögen, so selten, wie ich mich bei ihnen melde.
    Ich stehe am Flughafen und versuche mir vorzustellen, wie das war, durch die Straßen zu laufen, ohne Ana und Mia im Nacken zu spüren. Es gelingt mir nicht, aber für einen Moment weiß ich genau, wenn ich mich klug genug anstelle und wenn ich es wirklich will, dann werde ich sowohl Ana als auch Mia eines Tages an irgendeiner überfüllten Kreuzung abschütteln können und wieder frei sein. Auch wenn ich dann für die nächsten Jahre auf der Flucht sein muss, auch wenn ich gezwungen sein werde, von Deckung zu Deckung zu schleichen, damit sie mich ja nicht noch einmal erwischen.
    Das wird es wert sein.
    An jedem Tag.
     
    Urs holt mich wie immer vom Flughafen ab und bringt mich in meine Wohnung. Unterwegs erzählt er mir irgendetwas Belangloses, und ich höre halbherzig zu, nicke hin und wieder oder sage: »Hm« und »Ja« und »Hmhm« oder »Nein«. Am Fenster ziehen die weißen, schneebedeckten Wiesen und etwas weiter entfernt die hohen Berge an mir vorbei, frische Luft weht durch einen kleinen Spalt herein und kitzelt mich an der Nasenspitze. Das Wetter ist wunderschön klar, es ist kalt, aber nicht eisig. Weihnachtsstimmung macht sich in mir breit, etwa eine Woche zu spät, aber besser als gar nicht. Am liebsten möchte ich mir einen bunten, mit Süßigkeiten gefüllten Strumpf neben mein Bett hängen und »Run Rudolph Run« hören, bis ich Kopfschmerzen bekomme. Ich möchte so gerne ein bisschen von dem Frieden zurückbekommen, den ich als kleines Kind einmal hatte, als ich die Weihnachtsferien bei Freunden in einem winzigen Dorf mit zugefrorenem See verbracht habe und als ich noch nicht wusste, dass Lebensmittel und Männer meine Feinde sind.
    In Mellingen angekommen, verabschiede ich mich von Urs und schenke ihm einen Schokoladenweihnachtsmann und eine Schachtel Pralinen. Dann packe ich meinen Koffer aus, öffne die Vorhänge und Fenster, drehe die Musik laut auf und hüpfe durch die Wohnung. Ich bin die einzige Frau im Haus. Ganz Mellingen gehört mir.
    Ich kann ungehört um mein Leben schreien.
    Ich kann mich unbemerkt zu Tode hungern.
    Ich kann mit allen Schweizer Männern vögeln.
    Aber bevor ich damit anfange, frage ich mich zunächst, was das neue Jahr mir wohl bringen wird. Und ob alles leichter oder irgendwie besser werden kann. Ich komme nicht mehr dazu, mir diese Fragen zu beantworten, denn ich falle mit einem eleganten
Plopp
in Ohnmacht. Das Krachen meines Kopfes gegen den Türrahmen und dann den dumpfen Aufprall auf dem Fußboden nehme ich nur von weit her wahr.
    Ein Kribbeln, ein Zucken und ein durchdringender Schmerz in meinem rechten Arm holen mich schließlich zurück ins Leben. Ich öffne meine Augen, das Wohnzimmer liegt um mich herum, es bewegt sich nicht.
    Man sollte nicht herumhüpfen, wenn man unter 40  Kilo wiegt, ist der erste Gedanke, der mir in den Kopf steigt, während ich mich langsam aufrichte.
    »Schön, nicht wahr?«, entgegnet Ana. »Die Leichtigkeit des Seins.«
    »Ich glaube, da hast du etwas falsch verstanden«, erwidere ich.
    »Ich glaube nicht«, raunt Ana.
    »Ich glaube, ich sterbe«, flüstert Mia.
    »Au ja, bitte!«, freut sich Ana.
    »Haltet beide eure Klappe!«, sage ich.
    »Nein!«, sagt Mia.
    »Niemals!«, sagt Ana.
    »Werden wir an Silvester bunte Raketen sehen?«, fragt das kleine Mädchen dazwischen.
    »Schnauze!«, giftet Ana. »Du bist Vergangenheit!«
    »Seit wann magst du Raketen?«, frage ich währenddessen.
    »Schon immer«, sagt das kleine Mädchen. »Hast du das etwas vergessen?«
    »Pff!«, sagt Ana. »Wer interessiert sich denn für Raketen.«
    »Ich mag auch gerne Raketen«, sage ich.
    »Was für ein Zufall«, brummt Ana.
     
    Und kurz darauf ist das Jahr auch schon so gut wie zu Ende. Ich hätte nie gedacht,

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