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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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geschlossenen Augen die Tür für einen Fremden aufhält. Lilly, genau das bist du: dieses aufgewühlte, unbeschreibliche kleine Ding. Du lässt Dienstleistungssex über dich ergehen, um eine Entschädigung zu bekommen, die dir nichts bedeutet. Ein Handel, ein eiskalter Deal, denn damit kennst du dich aus. Ja, meine Süße. So ist das. Aber die richtige Zeit wird kommen.«
     
    Ich lausche aufmerksam.
    Es ist wertvoll, verstanden zu werden.
    Und noch während ich Ladys Worte einfange, höre ich im Hintergrund eine Kinderstimme und dann ein fröhliches Lachen.
    »Ist das deine Tochter?«, frage ich.
    Aber Lady antwortet nicht darauf.
    Sie räuspert sich nur.
    »Wir sehen uns bald«, sagt sie schließlich. »Und wehe, du siehst aus wie ein benutzter Zahnstocher, wenn ich zurückkomme.«
    Dann piept es auch schon an meinem Ohr, ohne dass ich ein einziges Abschiedswort hätte erwidern können.
    Ich halte noch eine Weile das Handy in der Hand, bis es mir sinnlos genug vorkommt, dann springe ich nachdenklich vom Fensterbrett.
    In die Wohnung.
     
    Meinen letzten Kunden empfange ich um kurz nach zweiundzwanzig Uhr, obwohl ich in der Silvesternacht eigentlich alleine sein wollte. Aber er hat so nett und höflich gefragt, und seine Stimme klang, als wäre er einsam genug, um sich in der Telefonleitung zu verlieren. Außerdem hat er versprochen, dass er vor Mitternacht wieder verschwunden sein würde, damit ich in Ruhe feiern kann, also lasse ich es drauf ankommen.
    Vielleicht habe ich ja Glück, und er ist ein Serienmörder, der sich in mich verliebt und daraufhin beschließt, nie wieder eine Frau abzuschlachten, weil meine strahlende Seele ihn bekehrt und ihm ewigen Frieden schenkt. Dann hätte ich noch etwas Gutes geleistet, in den letzten Stunden von diesem überflüssigen Jahr.
    »Hi, ich bin Derek«, sagt der Serienkiller zur Begrüßung und reicht mir die Hand.
    »Hey, Derek, ich bin Lilly«, sage ich.
    Denn es ist der letzte Tag im Jahr, und da darf man nicht lügen. Außerdem sollte man zu Serienmördern immer offen und ehrlich sein, damit sie ein schlechtes Gewissen bekommen, sobald sie von ihren Trieben überrannt werden.
    Derek lächelt mich an.
    Wahrscheinlich ist er doch kein Mörder.
    »Lilly – das gefällt mir viel besser als Felia«, sagt er freundlich.
    Er sieht gut aus, genau der Typ Mann, den ich attraktiv finde. Wenn ich normal wäre, könnten wir uns aneinanderkuscheln, ein Glas Wein zusammen genießen, über gute Filme diskutieren und heiraten.
    Aber ich bin nicht normal.
    Und er auch nicht.
    Er hat einen ganzen Rucksack voll mit Fesselzeugs dabei.
    »Ich weiß nicht, wie man das benutzt«, sage ich unsicher.
    »Macht nichts«, sagt Derek. »Ich mache das alles selbst, du brauchst nur dazusitzen und zuzuschauen.«
    Dann schnürt er sich mit unzähligen Seilen und Haken zu einem verknoteten Päckchen zusammen, klemmt sich seine Hoden ab, erwürgt sich fast, hat einen Orgasmus, packt sich wieder aus und setzt sich zu mir auf das Bett.
    »Keine Ahnung, warum ich so etwas mag«, sagt er verlegen.
    »Ich finde es nicht schlimm«, erwidere ich.
    »Danke«, sagt Derek.
    »Wofür?«, frage ich, denn schließlich habe ich nur dagesessen und nichts gemacht.
    »Dass du nicht gelacht hast …«, meint er.
    »Gern geschehen«, sage ich.
    Schließlich drückt Derek mich für einen Augenblick lang ganz fest an sich, dann steht er auf, um sich anzuziehen und sein Fesselequipment wieder in seinem Rucksack zu verstauen.
    »Komm gut ins neue Jahr«, sagt er zum Abschied.
    Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange, und er schließt seine Augen. Kurz darauf verlässt er die Wohnung.
    Und ich bin wieder alleine.
     
    Womit beendet man ein Jahr, wenn man so ist wie ich? Ich sehe fragend hinüber zu Ana, aber sie zuckt nur gelangweilt mit ihren Schultern. Weihnachten, Neujahr, Geburtstage – so etwas interessiert sie nicht die Bohne. Kalorien, Fettzellen, Body-Mass-Index, Gewichtsdiagramme, Nährwerttabellen, eingesunkene Wangenknochen, das ist Anas Welt. Und Mia? Sie hat Angst vor der Einsamkeit. Sie wünscht sich, dass jemand da ist, der sie festhält und ihr eine Geschichte erzählt, eine Geschichte mit Happy End. Aber da kann ich ihr leider nicht helfen.
    Nachdenklich frage ich mich, wie es wohl eines Tages sein wird, wenn ich wieder anfange, gesund zu werden. Was soll ich dann nur mit der ganzen Zeit anfangen, in der ich nicht hungere. Womit soll ich mich beschäftigen, wenn ich nicht meine ganze Konzentration dafür

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