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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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auf dem Weg verbraucht habe, mit Leichtigkeit auf eine andere Art verbrennen können.
    Zu Hause angekommen, klebe ich mir aus zwanzig DIN - A 4 -Seiten ein riesiges weißes Plakat zusammen. Anschließend breite ich es auf meinem Wohnzimmerfußboden aus, knie mich auf die untere Blatthälfte und fange an zu schreiben:
Stille Stille Stille …
4140 -mal, bis das Plakat voll ist.
    Denn ich habe begriffen, dass es die Stille war, in der ich zersplittert bin. Die Stille, nachdem
er
mich aus seiner Wohnung gelassen hatte und ich vor seiner Tür stand – reglos, haltlos, stumm. Und die Stille in dem Moment, in dem ich den Blick von meiner Mutter abgewendet habe, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, ihr dabei zuzusehen, wie sie Sanskritschriften übersetzte, hoch konzentriert, mit versteinerter Miene, und wie sie mich dabei, ohne eine einzige Sekunde lang aufzublicken, gefragt hat: »Geht es dir nicht gut? Ist irgendwas? Ich arbeite!«
    Die Stille, als ich letztendlich begriffen habe: Ich werde es ihr nie erzählen können. Sie wird mir nie aufmerksam genug zuhören. Und sie wird mir niemals mit sanfter Hand über den Kopf streichen und mir Geborgenheit schenken.
    Die Stille, in der ich stand, als ich in der Klinik war und mich ausziehen musste, während der Zivi, ein Praktikant und drei Ärzte um mich herumstanden und mich angestarrt haben, aus durchlöchernden Augen, aus männlichen Augen, und ich auf einmal nur noch ein Objekt war, ein interessantes Fallbeispiel, in dem synthetischen Licht der Behandlungsräume.
    Die Stille im Regen, an Caitlins Grab. Ich kann mich nicht daran erinnern, auch nur einen einzigen Regentropfen neben mir zu Boden fallen gehört zu haben.
    Die Stille, wenn ich meinen Vater besuchen gehe, um ihm etwas von mir zu erzählen, das wichtig ist – und wenn ich ihm dabei noch mit geschlossenen Augen ansehen könnte, dass es ihn nicht interessiert, dass es belanglos ist, seicht und unbedeutend.
     
    An Weihnachten verliere ich schließlich die Überreste meines Verstandes. Ich kann nicht mehr klar denken, meine Gefühle sind ein wirres Wollknäuel, total ineinander verheddert und gewickelt um nichts als Luft. Motten zerfressen mich, so dass ich aus drei Zentimeter langen Schnüren bestehe und keinen blassen Schimmer mehr habe, welcher davon wiederverwertbar ist und wo zum Henker mein Anfang oder mein Ende sein könnte.
    Meine Augenlider geben ihren Geist auf, sie fallen träge herab wie diese uralten roten Vorhänge in einem Kinosaal.
    Ich habe all meinen Freunden gesagt, dass ich schon mit anderen Freunden verabredet sei oder meine Eltern besuchen wolle, ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich mit Freunden feiern würde, und ich habe Chase erzählt, dass ich todkrank und furchtbar ansteckend sei.
    Er hat mir als Einziger nicht geglaubt.
    Ich habe alle belogen, am meisten mich selbst, nur weil ich Angst davor hatte, alleine zu sein, während ich von anderen Menschen umgeben bin – denn das ist noch schlimmer, als wirklich alleine zu sein.
    Jetzt sitze ich einsam auf meinem Wohnzimmerboden und starre einen Berg voller Geschenke an. Sie sehen alle gleich aus. Vor allem die Bücher. Als hätte man mir hundertmal dieselbe aussagelose Geschichte in unterschiedlichen Covergestaltungen geschenkt.
    Worte auf Repeat.
    Buchstabenschnipsel im zähflüssigen Satzbrei.
    Ich fange an, die Bücher nach Farben zu sortieren, und frage mich, in was für einen Einband man mich wohl stecken würde – wahrscheinlich in eine pornopink Leuchtreklame mit Pin-up-Girls und sexy Beinen. Und dann?
    Dann würde ich weinen.
    Weil ich begreifen müsste, dass ich, selbst wenn ich jedes Wort auf dieser Welt kennen würde, trotzdem nie die richtigen Sätze zustande bringen könnte, um mir Ausdruck zu verleihen. Ich wäre trotzdem nichts weiter als irgendein halbnacktes Mädchen im unterbelichteten roten Raum.
    Und die Schublade, in die man mich stecken würde.
    Sie wäre gefüllt mit unanständigen Dessous.
    Umgeben von Sexgeflüster.
    Ich würde meinen Namen verlieren; ein weiteres Mal. Und dann meine Stimme. Aus Scham. Und vor Schande. Bis die Abart dieser Zeit mir meine Fehler vergibt und mich einbindet.
    In mein Leben.
     
    Zwei Tage später verlasse ich mit gepackten Koffern meine Wohnung und werde von Row zum Flughafen gebracht. Meine Augen sind gerötet, mein Herz schlägt ratternd, bei jedem Schritt wird alles um mich herum verschwommen. Es grenzt an ein Wunder, dass ich noch keinen Herzinfarkt oder Immunschock

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