Splitterfasernackt
aufbrauche, nicht umzukippen, weiter zu atmen, eine Rolle zu spielen, Geschichten zu erfinden und Ausreden zusammenzubasteln.
Nur noch eine knappe Stunde bis Mitternacht, und meine Gedanken ziehen ihre unendlichen Kreise. Irgendwann lege ich mich auf das Bett, auf dem ich schon so viele Männer verführt habe. Dann ziehe ich meinen Laptop vom Nachttisch auf das Kopfkissen und beginne einen Brief an das kleine Mädchen zu schreiben.
Du bist noch immer jeden Tag bei mir – das hat die Zeit nicht geändert, da kann sie laufen und rennen so viel, wie sie will, abschütteln wird sie dich nie. Wie alt bist du eigentlich? Sechs, oder schon sieben? Deine Haare sind länger als meine und ganz weich, sie reichen dir fast bis zu deinen Hüften. Du bist noch so klein und immer leicht gebräunt, auch wenn gar nicht Sommer ist. Schau mich an, ich bin immer weiß und blass, egal, wie schön die Sonne draußen scheint.
Ich kann dich sehen: Du bist einsam, weil du nicht weißt, wie man mit anderen Kindern spielt; du fühlst dich fremd, wenn du deine Freunde besuchen gehst, denn bei dir zu Hause ist alles anders. Du weißt nicht, wie es ist, sich in Sicherheit zu wiegen. Dafür weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man einen Schwanz im Mund hat und versucht, nicht zu weinen – weil er es mag, wenn du weinst und zappelst.
Aber am Abend, in deinem Bett, da weinst du dann. Jede Nacht. Jede verdammte Nacht.
Du sagst: »Mama, ich liebe dich.«
Und deine Mutter antwortet: »Ich habe jetzt keine Zeit.«
Da drehst du dich um.
Und läufst davon.
Du versteckst dich in deinen Gedanken.
Und wenn ich dort bei dir wäre, meine Kleine, ich würde mich zu dir niederknien, damit ich auf Augenhöhe mit dir wäre, ich würde dein Gesicht ganz sanft in meine Hände nehmen, ich würde dir über deine hübschen Wangen streichen, deine zarten Augenbrauen mit den Fingerspitzen nachzeichnen und dir kein Wort über deine Zukunft verraten.
Das schreibe ich dem kleinen Mädchen, kurz bevor dieses Jahr endlich vorüber ist. Sie steht neben mir, in sicherer Entfernung, nicht in Reichweite, das würde sie niemals riskieren, und sie blickt nachdenklich auf meine getippten Worte.
Dann streckt sie auf einmal ihre kleine Hand in meine Richtung aus. Beinahe berührt sie mich. Und kaum merklich überschneiden sich unsere einsamen Räume.
Ich blicke auf die Uhr: Noch sechzehneinhalb Minuten bis Mitternacht.
Fünfzehn Minuten.
Die Zeit verrinnt. Ich halte die Luft an, nur um auszuprobieren, wie es sich anfühlt, wenn ich etwas weniger lebendig bin. Nichts passiert. Also gucke ich nach meinen E-Mails.
Meine Mutter hat mir geschrieben: »Ich bin stolz auf dich, und du fehlst mir.«
Und das ist das erste Mal, dass jemand den E-Mail-Account meiner Mutter geknackt und mir in ihrem Namen Komplimente geschickt hat.
Und falls es doch meine Mutter war, würde sie dann auch noch stolz auf mich sein, wenn sie wüsste, wie vielen Männern ich schon einen geblasen habe? Ich lese die E-Mail zweimal hintereinander durch, und dann werde ich traurig, weil ihre Anerkennung mich nicht glücklich macht. Mein Leben lang habe ich versucht, alles besser zu machen, alles richtig zu machen – nur für meine Eltern, damit sie mich endlich lieben können. Aber jetzt wird mir klar, dass es mittlerweile egal geworden ist.
Dreizehn Minuten.
Zum Glück klingelt das Handy nicht. Wer ist jetzt noch so einsam, dass er ein Mädchen wie mich an seiner Seite braucht? Hoffentlich niemand.
Aber ich bin einsam.
Und wen brauche ich an meiner Seite?
Für einen Moment schließe ich die Augen.
»Bitte, bitte lass mich gesund werden«, sage ich an niemand Bestimmten gerichtet.
Dann öffne ich meine Augen und sehe mich nach dem kleinen Mädchen um. Aber es ist nirgendwo zu entdecken.
»Der Nebel hat sie verschlungen«, flüstert eine Stimme in der Nacht. »Hörst du sie um Hilfe rufen, hörst du sie schreien?«
Ich schüttele den Kopf.
»Dann hör genau hin«, sagt die leise Stimme warnend und verschwindet.
Nur noch sechs Minuten. Dieses Mal wünsche ich mir, nicht zu sterben; aber ich erinnere mich an all die Silvesternächte, in denen ich in meinem Bett gelegen habe, die Augen fest geschlossen, und mir das Gegenteil herbeigesehnt habe. Und dann bin ich aufgewacht, am nächsten Morgen, im neuen Jahr, und war so enttäuscht und so leer.
Doch heute ist es anders: Ich will einen Weg, auf dem ich alleine laufen kann, ohne Ana und ohne Mia im Schlepptau. Aber mit meinem
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