Splitterfasernackt
hinter mir herschleife, ein Geheimnis, das so schwer wie ein Betonklotz wiegt, in den mein Name geritzt steht und der an mein Bein gekettet ist. Ich erinnere mich so genau daran, wie seine Hände gerochen haben und wie sein Atem stank; ich könnte bis auf das kleinste Detail beschreiben, wie sich seine Berührungen auf meinem Körper angefühlt haben, wie rauh, wie eklig, wie grob, wie zerstörend, wie schmutzig. Jedes Wort, das er zu mir gesagt hat, könnte ich wiedergeben, wenn ich nur den Teil meiner Stimme wiederfinden würde, den ich damals verloren habe.
Als Caitlin gestorben ist und der Lietzensee auf ihrem Grab mir nichts, aber auch gar nichts von ihr zurückgebracht hat und als ich mir plötzlich sicher war, dass mein Leben keinen verständlichen Wert mehr hätte, so dass ich auch einfach alles auf eine Karte setzen könnte – mich und meine drei größten Feinde: Sex, Männer und Lebensmittel, damals, an diesem Tag, habe ich verloren.
Und alles, was jetzt kommt, ist Bonusmaterial.
Wer weiß, was ich hier überhaupt noch mache, wie mein Körper es Tag für Tag schafft, seine zittrigen Glieder aus dem Bett zu hieven und da zu sein. Ich weiß nicht, wie ich es erdulde, das ewige Hungern, das kein Ende mehr nimmt. Es gibt Tage, da tue ich nichts anderes: Ich stehe auf, blicke in den Kühlschrank und schließe ihn wieder. Dann sitze ich da, spaziere ein bisschen herum, schreibe ein wenig, koste es aus, dieses bohrende und schmerzende Hungergefühl, lege mich wieder hin, wälze mich umher, fühle mich dahinschwinden.
Mach das mal vierundzwanzig Stunden lang, wochenlang. Ernähre dich nur von ein paar Erbsen. Irgendwann ist dein Körper so schlaff, dass er nicht einmal mehr einschlafen kann, sondern nur noch daliegt und wimmert.
Und irgendwann hört auch das Wimmern auf.
Dann ist es endgültig vorbei.
Bonusmaterial ausgereizt.
Aber nichts auf der Welt hat mir je so viel Ruhe und sanftmütige Stille gegeben wie das Hungern. Niemand hat mich je fester gehalten oder zärtlicher berührt als Ana. Ich bin süchtig nach dieser Stille; dem Augenblick, wenn all die anderen Stimmen in meinem Kopf endlich aufhören zu schreien, zu toben und wenn die Angst in mir kleiner wird, immer kleiner, bis sie kaum noch zählt.
Der erste Tag im neuen Jahr, und ich stelle fest, dass ich meinen Blick nicht mehr fokussieren kann. Die Welt verschwimmt vor meinen Augen, ich sehe nur noch unscharf, meine Augenlider sind so unglaublich müde – sie zucken nervös, sie fallen schlaff herab, sie ergeben sich.
Die Tage in der Schweiz vergehen immer langsamer und schleppender; trotz all dem Sex.
Was für ein Satz: Trotz all dem Sex.
Den sollte ich mir auf ein T-Shirt drucken lassen.
Oder am besten gleich auf meine Unterwäsche.
Denn mein erstes Mal liegt noch vor mir. Der Augenblick, in dem ich zum allerersten Mal in meinem Leben mit einem Mann schlafen werde, weil ich es möchte, weil ich es kann, weil ich es darf. Und wenn es dann ehrlich ist und keine Illusion, wenn es kein Schauspiel mehr sein muss, keine Lüge, kein Zwang, und wenn ich aufhöre, die Sekunden zu zählen – dann wird irgendetwas zerbrechen in mir.
Ganz bestimmt.
Die Mauern, die Fesseln – seine würgende Hand.
Dann werde ich endlich frei sein.
6
E ine Woche später fängt es wieder an zu schneien, und plötzlich steht ein Mädchen in Hotpants und einem bauchfreien Shirt vor meiner Tür, mitten im Schnee und sagt: »Hey! Ich bin Angel. In Berlin ist nichts los, und meine Familie ist der absolute Feiertagshorror! Ich musste da weg. Also bin ich hergeflogen! Row hat gesagt, dass du in der Nachbarwohnung bist und dass wir ja vielleicht Freundinnen werden können. Hast du Lust?«
»Ja, klar. Hi. Ich bin Lilly«, sage ich überrumpelt.
»Super!«, meint Angel und reibt ihre zitternden Hände aneinander. »Scheiße, ist das kalt! Hätte ich gewusst, dass es hier so viel Schnee gibt, hätte ich mir andere Klamotten mitgebracht. Aber ich dachte, ich bin ja eh die meiste Zeit über nackt. Hihi. Kann ich reinkommen?«
»Klar«, sage ich und halte Angel die Tür auf.
Und so stürmt Angel in meine heilige Stille und macht mehr Krach, als man einem so zierlichen und engelsblonden Mädchen zutrauen würde.
»Das ist echt krass hier in der Schweiz!«, sagt sie kopfschüttelnd nach drei Tagen. »Ich konnte mir das gar nicht vorstellen, weißt du. Auf der Straße ist alles ganz anders. Hier ist es, als würde dein Schatz von der Arbeit nach Hause kommen oder
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