Splitterfasernackt
Körper.
»Sprich mich frei«, flüstere ich mir zu. »Für diese eine Nacht nur, damit ich weiß, wie es ist, schuldlos zu sein und ohne Schande – damit der Abgrund in meiner Seele mich nicht achtlos verschluckt.«
Dann verstumme ich.
Und die Raketen zischen triumphierend hinauf in die Dunkelheit. Auch wenn ich sie nicht sehen kann, weil der Nebel zu dicht vor meinem Fenster schwebt, höre ich doch ihre bunten Farben explodieren und in Schwärmen vom Himmel fallen. Glühende Sterne, funkelnde Blitze – ich weiß, sie sind dort oben.
Das Jahr ist vorbei.
Und ohne einen winzigen Moment des Zögerns, ohne Verschnaufpause, ohne ein noch so kleines Hinterfragen beginnt auch schon ein neues Jahr.
5
I mmerhin habe ich mich nicht ins neue Jahr gevögelt, das ist der erste Gedanke, der mir beim Aufwachen durch den Kopf schießt.
Ich habe geträumt, dass ich gemeinsam mit Caitlin ein riesiges Bordell im Zentrum von Hamburg eröffne. Keine Ahnung, warum ausgerechnet in Hamburg, da war ich noch nie. Berlin wäre naheliegender gewesen. Oder Köln oder Frankfurt oder von mir aus auch Osnabrück.
Chase war auch da, in einem Whirlpool auf dem Bordelldach, umgeben von vier nackten, ganz entzückenden sexy Frauen mit großen Brüsten, von denen die eine aussah wie meine ehemalige Mathelehrerin.
Vielleicht sind solche Träume ein weitverbreitetes Krankheitsbild von leichten Mädchen, und weil keine von uns darüber redet, wird es nie jemand erfahren.
Die Sonne scheint durch das geöffnete Fenster auf mein Gesicht, die Luft ist frisch und kühl, und das Jahr riecht nach Zukunft. Ich wickele mich in die Bettdecke, steige aus dem Bett und setze mich auf meinen Lieblingsplatz am Fensterbrett. Die Kirchturmuhr auf der anderen Seite der Reuss schlägt ehrfurchteinflößend; wie auch immer sie das schafft.
Im Hintergrund kann ich das aufgewühlte Wasser vom Wehr herüberrauschen hören, und in meinem Kopf ist genauso viel Chaos wie im letzten Jahr. Ich hatte eigentlich gedacht, mit all den Raketen, die während der Nacht in den Himmel gestartet sind, seien auch meine Probleme ganz weit weg geflogen und in funkelnden Sternenstaub verpulvert.
Doch sie sind noch da.
Logischerweise.
Aber wenn man es schafft, an einem Tag mehr Kondome als Umlaute zu benutzen, dann braucht man nicht mehr logisch zu denken. Dann gibt es wichtigere Sachen.
Ich beschließe, mir zur Feier des neuen Jahres einen Film anzuschauen, aber all die Filme, die akkurat nach Alphabet geordnet in dem Wohnzimmerregal stehen, kenne ich schon. Erst ganz zum Schluss finde ich eine DVD , die nach hinten durchgerutscht ist und die ich noch nicht gesehen habe.
Also sehe ich »Human Trafficking«, einen Film über Frauenhandel.
Danach weine ich.
Weil mir klarwird, dass
ich
mein Zuhälter bin.
Dass ich nicht von irgendeinem starken, bösen Mann gefoltert und zur Prostitution gezwungen werde, sondern nur von mir selbst. Ich bin es, die mit eiskaltem Finger auf mich deutet und sagt: »Zieh dich an, mach dich hübsch, setz dein verdammtes Lächeln auf! Beeil dich – du hast einen Termin …« Ich befehle mir, all diese Rollen zu spielen, immer ein Strahlen auf meinen Lippen zu tragen und nie die Fassade bröckeln zu lassen. Ich verbiete es mir, um Hilfe zu bitten oder wegzulaufen. Ich dränge mich dazu, meinen Körper zu verkaufen, und ich zwinge mich, meinen Mund zu halten.
Irgendwann höre ich wieder auf zu weinen.
Denn es bringt nichts.
Wenn niemand kommt.
Der einem die Tränen wegwischt.
Den ersten Kuss im neuen Jahr gebe ich einem Stammgast, der mit einem Neujahrspäckchen vor meiner Tür aufkreuzt, obwohl er eigentlich gar keine Zeit hat und mich nur einmal kurz drücken kann. Er hebt mich hoch und wirbelt mich durch die Luft, weil er sich so sehr freut, mich zu sehen. Da vergesse ich vor lauter Überwältigung einen Moment lang, was ich mir antue und wie leichtfertig ich meinen Körper aufs Spiel setze.
Aber nachdem er wieder weggegangen ist, fange ich an, darüber zu grübeln, mit wie vielen Männern ich eigentlich mittlerweile geschlafen habe. Achthundert. Tausend. Tausenddreihundert. Oder gehe ich schon auf die Zweitausend zu?
Ich weiß es nicht.
Ehrlich, ich habe keine Ahnung.
Ein einziger Mann ist mir so deutlich in meinen Kopf gebrannt, dass ich ihn unter Millionen von Menschen wiedererkennen würde; der Mann, dem ich gehört habe, als ich sechs Jahre alt war. Der Mann, der dafür gesorgt hat, dass ich ein untragbares Geheimnis
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