Splitterfasernackt
hochnäsig, erwartet keinen Beifall und verschwindet. Denn sie weiß, wie dumm ich bin, weil ich verhungere. Und sie weiß, dass ich es auch weiß.
Ana bis zum Ende. Stay strong, think thin. Fuck food. Nothing to lose but pounds. Be Ana, be perfect. Hunger is beautiful. Crying is against the rules. All the lovely bones. A perfect body/ A perfect soul …
Kein Mädchen will so leben, noch weniger will ein Mädchen so enden, aber wie viele von uns tun es doch. Manchmal sehe ich auf der Straße ein einsames Mädchen stehen, das ein rotes Armband um sein winziges Handgelenk geschlungen trägt, eines dieser Armbänder, die fast alle Ana-Mädchen tragen. Im ersten Moment möchte ich zu dem Mädchen hinübergehen und es wachrütteln, weil es so schön und so verloren aussieht und weil es noch viel zu jung zum Sterben ist – weil ich ihm sagen möchte, dass es gesund werden muss, bevor es zu spät ist. Aber dann fällt mir wieder ein, dass ich genauso bin.
Dass ich auch Ana heiße.
Also halte ich meinen Mund und hungere brav weiter.
Meine schwindende Seele – wie leicht sie meinem Körper entwischt. Wie leicht ich meine Augen verschließe, vor dem Sex, der mir angetan wurde.
Ich vergrabe meinen dröhnenden Kopf in der roten Decke, huste noch etwas Blut und werfe anschließend einen Blick auf meinen Wecker. Es ist sieben Uhr morgens. Aber ich fühle mich, als wäre es spät am Mittag. Überwältigend, der Zeit um Stunden voraus zu sein.
Ich stehe auf und gehe ins Bad, mein rechter Fuß hinterlässt lustige rote Abdrücke auf dem Parkettboden und den Fliesen. Einen kurzen Augenblick lang denke ich darüber nach, mich mit einem Föhn in die Badewanne zu legen, aber ich habe keine Steckdose in der Nähe von meiner Badewanne und auch kein Verlängerungskabel. Und nass will ich im Grunde genommen sowieso nicht sterben. Es würde eine Ewigkeit dauern, bis mich jemand findet, bis dahin wäre ich zu einem fetten Wasserballon aufgequollen und müsste mit einem Kran aus der Wohnung gehoben werden. Wer will schon so einen Abgang machen?
Ich werfe einen Blick in den Spiegel. Nach einer Nacht Blutkotzen sehe ich aus wie vor einer Nacht Blutkotzen. Kein großer Unterschied; die Blutspritzer kann man einfach wegwischen.
Dann steige ich auf die Waage – mein Lieblingszeitvertreib. 41 Kilo. Eine winzige Stimme in meinem Kopf flüstert kaum hörbar: »Du bist dünn genug.« Eine verdammt laute Stimme schreit mich an: »Du bist immer noch viel zu fett! Du hast mal unter 40 Kilo gewogen! Wie kannst du es wagen!« Natürlich höre ich auf die laute Stimme und kneife in meinen schwabbeligen Bauch. Auf die Idee, dass ich Untergewicht habe, dass meine Hüftknochen und Rippen gruselig hervorragen, komme ich nicht. Wieso auch. Ich heiße Ana.
Mein Spiegelbild ist fast frei von Blutspritzern. Ich nehme ein Handtuch, befeuchte es und beseitige die letzten Spuren. Ein neuer Tag, eine weitere Zugabe. Genau wie morgen auch wieder.
Vielleicht.
Mit etwas Glück.
Ich putze mir die Zähne. In einigen Stunden werden meine Augen anfangen zu schmerzen, das ist so, wenn man nicht genügend isst, dann zucken die überreizten Augenlider ständig hin und her, und man fängt an, so lange darin herumzureiben, bis sie anschwellen, jucken und noch mehr weh tun.
Das ist dann die Zeit, zu der ich mich wieder in mein Bett verziehen werde, auch wenn es längst nicht Abend ist. Ich werde mich herumwälzen, unruhig, mir selbst gut zureden, über meinen Kopf streichen, mich in den Arm nehmen. Ich werde mir ins Ohr säuseln: »Alles wird gut, ich bin ja da, hab keine Angst, bald kannst du schlafen …« Ich werde mir kein Wort glauben, aber ich werde zumindest so tun.
Das ist Sozialverhalten.
Gegenüber seinen gespaltenen Mitpersönlichkeiten.
Und schließlich werde ich in einen wirren Schlaf fallen, aus dem ich immer wieder aufwache, weil ich den Geruch von Bier einatme und schmutzige Hände über meinen Körper wandern spüre.
Vielleicht sollte ich meine Erinnerungen in goldenes Geschenkpapier wickeln und einem weisen Buddha schenken. Vielleicht könnte er das Päckchen mit seinem heiligen Schein berühren, es mit einem Wimpernschlag öffnen und alles darin zu Blütenstaub zerfallen lassen, während ich in einem weißen Kleid unter einem Maulbeerbaum tanze und wieder weiß, wie schön das Leben ist.
Aber bis dahin werde ich mich weiterhin in meiner Bettdecke verknoten, versuchen, auf dem Fußboden zu schlafen, in der Badewanne, auf dem Sofa,
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