Splitterfasernackt
betrachte den Wald von oben und warte darauf, dass der Tag vergeht und ein neuer kommt.
»Ich buddele ein Loch auf deinem Grab«, sage ich währenddessen zu dem Baum, als wäre er Caitlin. »Dann lege ich es mit einer Plane aus und fülle Wasser aus dem Lietzensee hinein; weil wir uns so kennengelernt haben – weil das einer der schönsten Tage in meinem Leben war. Als Kind wolltest du den See immer leerpumpen, weißt du das noch? Und anschließend wolltest du ihn mit sauberem Wasser auffüllen, damit wir dort baden könnten. Aber wir wussten nicht, wie wir das ganze Wasser aus dem See kriegen sollten. Das war ziemlich lustig.«
Die Baumkrone um mich herum nickt im Wind.
Als hätte sie verstanden.
Fünf Wochen später sitze ich nicht mehr auf dem Baum. Stattdessen schleppe ich einen randvollen Eimer mit Wasser zum Friedhof.
Direkt vor einer heiligen Jesus-Statue mit abgebrochenem Dornenkranz bleibe ich schließlich stehen und beobachte ein herumflatterndes Taschentuch. Der Wind ist unbekümmert. Er kennt keine Grenzen. Ich lausche seinem einsamen Flüstern, und dann fällt mir ein, dass ich gar keine Ahnung habe, wo Caitlins Grab sich befindet.
Ich will weinen.
In meiner Abgeschiedenheit.
In meiner zweifelhaften Zeit.
Aber ich beiße mir auf die Unterlippe und laufe einfach weiter. Zwischen den Grabsteinen umher, am Tod vorbei. Der Friedhofsgärtner guckt mich komisch an, wahrscheinlich spazieren nicht oft junge Frauen in grünen Frühlingskleidern über den Friedhof, schleppen einen Eimer Lietzenseewasser und eine rote Kinderplastikschippe mit sich herum und schleifen dabei auch noch ein Stück durchsichtige Duschplane mit Delphinen darauf hinter sich her.
Er schüttelt den Kopf.
Über mich. Oder das Leben.
Ich wende mich ab und blicke hinauf zum Himmel. Es sieht nach Regen aus. Wenn es zu viel regnet, wird das Lietzenseewasser in Caitlins Teich sich irgendwann in Regenwasser verwandeln. Ich nehme an, das spielt keine Rolle. Nicht in diesem Theaterstück. Kein Grund, die Nerven zu verlieren und loszuheulen.
Also weiterlaufen. Niemals stehen bleiben.
Ich bin nicht zum Versagen auf der Welt.
Nachdenklich irre ich auf dem Friedhof hin und her und halte Ausschau nach Caitlins Grab. Hannah hat mir irgendetwas gesagt, von wegen links oder rechts und dann noch einmal links oder rechts, aber erst ziemlich lange geradeaus, oder auch nicht und dann wieder nach rechts und zum Schluss noch einmal links. Wer soll sich so etwas merken?
Irgendwann fängt es an zu regnen. Das Grab habe ich immer noch nicht gefunden, aber dafür bin ich bestimmt schon siebenmal an dem Gärtner und seiner Schubkarre vorbeigelaufen. Er guckt mich jedes Mal komischer an, aber er sagt trotzdem nie ein Wort. Vielleicht ist er stumm, oder schüchtern.
Das Lietzenseewasser mischt sich allmählich mit Regenwasser. Ich ziehe die Delphinplane, so gut es geht, über den Eimer. Denn Caitlin soll einen Original-Lietzensee bekommen, wenigstens für den Anfang, ansonsten wäre die Schlepperei ziemlich unsinnig gewesen. Außerdem waren ihr solche Kleinigkeiten wichtig. Sie hat sogar die Teller in ihren Küchenschränken nach Farben sortiert, unten die dunklen, oben die hellen. Ich habe einmal versucht, ihr zu erklären, dass es den Tellern vollkommen egal ist, welcher oben lagern darf und welcher der unterste sein muss. Vor allem, wenn sie hinter geschlossenen Küchenschranktüren stehen. Da hat Caitlin mich furchtbar verzweifelt angestarrt und dann angefangen, lautstark zu schluchzen. Ich habe nie wieder ein Wort über ihre Teller oder Ähnliches verloren.
Und Caitlin hat nie wieder geweint.
Sie hat Jura studiert, um ihren Vater glücklich zu machen.
»Das finde ich nicht so gut«, habe ich einmal zu ihr gesagt. Ich fand, sie sollte lieber etwas studieren, das sie selbst glücklich machen würde.
»Ach, Lilly«, hat Caitlin da gesagt »es ist schon okay.«
Seitdem weiß ich, dass alle Menschen lügen, die sagen »es ist schon okay«, denn das
schon
nimmt dem
okay
seine Bedeutung.
Und Caitlin.
Sie hat ihrem Leben die Bedeutung genommen.
Sie ist einfach abgesprungen.
Frei. Willig.
Der Regen hört nicht mehr auf, meine Haare hängen mir nass in mein Gesicht, und ich kann sie nicht zur Seite wischen, weil ich keine Hand frei habe. Mein Kleid ist völlig durchnässt, es klebt an meinem Körper, und ich bin froh, dass ich zurzeit unter 42 Kilo wiege, denn wäre es nicht so, dann würde ich mich jetzt furchtbar fett fühlen.
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