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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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neben dem Tisch, unter dem Schrank, im Flur, in einer selbstgebauten Höhle, im Sitzen, im Stehen und unter dem Einfluss von literweise Schlaftee. Nichts davon wird helfen, und dann wird der nächste Morgen kommen, wie an jedem neuen Tag.
    Außer einmal, wenn er dann nicht mehr kommt.
    Das ist das Gesetz des Daseins.
    Es verbindet uns alle.
     
    Ich schlurfe zurück in mein Schlafzimmer, ziehe das blutverschmierte Bett ab und beziehe es neu, mit einem nach Sommerfrische duftenden rosa-weiß gestreiften Bezug. Es ist, als würde ich die Spuren nach einem Massenmord vernichten, und während ich die Bettwäsche in einen schwarzen Müllsack stopfe, den ich anschließend durch das Treppenhaus und über den Hof zu den Mülltonnen schleife, komme ich mir vor wie ein bundesweit gesuchter Straftäter auf der Flucht; zum Glück begegnet mir kein einziger Nachbar.
    Da ich nun schon einmal unten bin, gehe ich noch kurz zum Bäcker und kaufe mir zwei belegte Brötchen. Eins mit Käse und eins mit Salami. Wieder in meiner Wohnung angekommen, koche ich mir einen Tee, setze mich mit dem dampfenden Becher an den Küchentisch und fange an, die Brötchen zu essen.
    Mein Körper steht währenddessen am anderen Ende des Raumes und fragt schüchtern, ob ich nicht zu ihm kommen möchte und ob wir nicht vielleicht Freunde werden könnten. Ich lache ihn aus und sage: »Halt deine dumme Klappe.«
    Mein Körper senkt den Kopf, zieht betrübt von dannen und beschäftigt sich mit irgendetwas, das ich nicht verstehe. Ist mir nur recht so. Ich gehe währenddessen ins Bad und erbreche. Dann fange ich an, meinen blutroten Fußboden zu wischen, und denke nebenbei darüber nach, ob es wohl eine Möglichkeit gibt, den Stimmen in meinem Kopf beschwichtigende Namen zu geben, um wenigstens einen kleinen Teil der Kontrolle über mich zu behalten. Alle Menschen, die »Identitätskrise« nur mit einer einzigen Stimme aussprechen können, nicht mit drei oder vier verschiedenen, von denen jede einen anderen Klang beherrscht und glaubt, sie sei die einzig wahre, werden leider nicht verstehen, was ich damit meine.
    Sogar ich habe den Überblick über mich verloren. Denn ich bin immer die Person, die mein unsagbarer Kopf gerade beschließt zu sein. Manchmal bin ich nur zweigeteilt, dabei aber so gespalten in mir selbst, dass ich glatt doppelt Eintritt bezahlen müsste, wofür auch immer. Dann wieder bin ich so voll und ganz eine lebendige Lüge, dass ich schon gar nicht mehr weiß, wohin der ehrliche Teil von mir verschwunden ist, und im nächsten Moment schon bin ich ein dritter oder vierter Teil von mir, einer von diesen Teilen, der ich für jemand anders bin, den ich beeindrucken möchte, oder täuschen, oder abwimmeln – oder manchmal auch für mich selbst, weil es einfacher ist.
    Heute bin ich ein gebrochener Teil. Heute ist meine Welt schwarz, und die Regenwolken am Himmel werfen ihre nassen Schatten auf mich und schwören mir, bis ans Ende meiner Tage direkt über meinem Dasein zu schweben. Ich glaube ihnen jedes Wort. Ich glaube generell alles, was Gegenstände oder Dinge, die am Himmel schweben, zu mir sagen. Aber trotzdem kaufe ich keinen Regenschirm.
    Dafür esse ich zwei Tage lang nichts mehr.
    Das ist ein guter Ersatz für alles. Und das größte Ziel.
    Hunger hurts, but starving works.
    Ana on my bones, Ana on my soul.
    Es ist so leicht zu verlieren.

6
    I m darauffolgenden Frühling fühle ich mich wie ein Eisbär. Ich ernähre mich von einer winzigen Portion Sushi pro Tag und habe zartes Fell auf den Armen, weil mein Körper sich anders nicht mehr warm halten kann. Irgendwo sitzen bestimmt Vögel in den Bäumen und zwitschern. Aber das verstehe ich in Momenten wie diesen nicht. Vielleicht im nächsten Jahr. Oder im Jahr darauf.
    Wie ich es noch schaffe, mit den Kindern durch die Gegend zu toben, Schatzsuchen und Kindergeburtstage zu organisieren, ist mir ein unergründliches Rätsel.
    Aber was wäre die Welt ohne Fragen.
    Ein unbeantworteter Lebensraum.
     
    An einem Freitagabend bin ich ein bisschen einsam und rufe meine beste Freundin Caitlin an. Wir haben über zwei Wochen nicht mehr miteinander telefoniert, und gesehen habe ich sie seit ungefähr einem Monat nicht mehr. Ich kenne Caitlin schon ewig, wir haben uns mit fünf Jahren im Lietzenseepark zum ersten Mal getroffen. Sie stand am Wasser, und ihre Mutter saß auf einer Picknickdecke, nicht weit entfernt von meiner Mutter, die auf einer Parkbank saß und mich, so gut es ging, ignorierte.

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